Gute Milch von Strahlenkühen

In Strelitschewo pflegen alte Leute ihre Gärten und schicken ihre Kühe auf die Wiesen. Die Schilder aber sagen: „Radioaktivität – Weiden verboten ■ Aus Gomel Barbara Oertel

Pünktlich, wie verabredet, wartet Valera um neun Uhr morgens in Gomel vor dem Hotel. Schließlich kann er heute als Chauffeur in ein paar Stunden einen halben Monatslohn verdienen. Ein kurzer Anruf in seiner Fischfabrik genügte, um frei zu bekommen.

Die Sonne knallt und verwandelt das Eis auf den Straßen langsam in metergroße Pfützen. Die Fahrbahn ist wie leergefegt. Nur ab und zu überholt Valera einen Pferdewagen. Nach gut anderthalb Stunden ist die Region Choiniki, rund 120 Kilomter südwestlich von Gomel erreicht.

Alle zwei bis drei Kilometer ist am Straßenrand ein Schild mit einem gelben Dreieck aufgepflanzt: „Radioaktivität, Gefährliche Zone. Weiden von Vieh, Heuernte sowie Sammeln von Pilzen und Beeren verboten!“ Sechzig Prozent des Gomeler Gebietes, zu dem auch Choiniki gehört, wurde durch den Reaktorunfall in Tschernobyl radioaktiv verseucht. In mehreren Etappen mußten 130.000 Menschen den Landstrich verlassen. Sie wurden in andere Bezirke Weißrußlands umgesiedelt.

„Strelitschewo“ verkündet die Tafel am Ortseingang. Auf der rechten Seite der Hauptstraße wachsen zwei- und dreistöckige Wohnblocks aus dem Boden. Linkerhand erheben sich Holzhäuser. Bei vielen ist die Farbe an den Wänden abgeblättert, Fenster und Türen sind vernagelt. „Dort bauen sie und hier darf man angeblich nicht leben. So etwas gibt es eben nur bei uns, ein Land der Wunder“, sagt Valera kopfschüttelnd und stoppt den Wagen.

Zögernd nähert sich eine alte Frau. Geblümtes Kopftuch, die Füße stecken in Filzstiefeln, unter der wattierten Jacke guckt ein armseliger Rock hervor. „Gleich nach der Katastrophe haben sie uns von hier ausgesiedelt, in die Nähe von Witebsk. Dort habe ich es nicht ausgehalten“, sagt sie und ihre Goldzähne blitzen in der Sonne. Seit sechs Jahren lebt sie wieder hier. „Das hier ist doch meine Erde, hier sind meine Wurzeln. Nirgendwo ist es besser, als in der Heimat.“ Das Leben sei gut, immerhin habe jeder ein Stück Land bekommen.

Das Nachbarhaus ist erst seit kurzem wieder bewohnt. Die 67jährige Sonja und ihr fünf Jahre jüngerer Mann Alexander sind im letzten Jahr aus Kasachstan hierhergekommen. 30 Jahre haben sie dort gelebt, bis sie die wirtschaftliche Misere nach Weißrußland trieb. „Hier bekommen wir regelmäßig unsere Rente, in Kasachstan haben wir oft mehrere Monate kein Geld gesehen“, sagt Sonja. Außerdem gäbe es hier in den Geschäften etwas zu kaufen.

Mit Milch, Eier und Fleisch versorgen sich die beiden alten Leute selbst. Denn zur Familie gehören auch neun Hühner, eine Kuh und ein Schwein. Sonja öffnet die Stalltür. „Das ist unsere Notschka, die kleine Nacht“, sagt sie und streicht der schwarzen Kuh über den Kopf. Dann deutet sie auf die kahlen Bäume vor dem Gartenzaun. „Im Sommer haben wir alles, was wir brauchen. Beeren, Äpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen.“ Angst, in einem verstrahlten Gebiet zu leben, hat Sonja nicht. „Früher oder später landen wir doch alle auf dem Friedhof“, sagt sie. Zum Abschied gibt es noch Rahmgebäck. „Das ist mit Milch von Notschka gemacht“, sagt Sonja. Für einen Moment zieht sich die Kehle zusammen.

Fünf Kilometer hinter Strelitschewo ist die Fahrt zu Ende. Zunächst einmal. Ein Schlagbaum versperrt die Straße. Hier beginnt die Zone, für die offizielle Angaben eine Strahlenbelastung von mehr als 40 Curie pro Quadratkilometer ausweisen. Dorthinein kommt keiner. Fast keiner. Gerade passiert ein Bus die Sperre. Valera tastet sich langsam an den rot-weiß gestreiften Balken heran. Aus dem Kontrollhäuschen, einer übergroßen Blechbüchse, tritt ein Milizionär. „Sie haben keinen Passierschein... Da muß ich erst einmal anrufen.“ „Vielleicht telefonieren Sie nicht, und lassen uns durch, es dauert nicht lange“, sagt Valera. Der Posten verschwindet in der Büchse. Nach zwei Minuten kommt er zurück. Der Schlagbaum bleibt unten.

Valera wendet und biegt von der Hauptstraße ab. Moschniki ist ein Geisterdorf. Niedrige, verwinkelte Holzhäuser reihen sich zu beiden Seiten der Straße aneinander. Die Fensterscheiben sind zerschlagen. In den Dächern klaffen große Löcher. In einer der verwaisten Behausungen steht auf einem Tisch eine verrostete Konservendose. Darin steckt eine Gabel. Ein Schild auf der anderen Seite des holperigen Weges warnt vor der Radioaktivität und droht mit Strafe. Bis zu drei Mindestlöhnen muß derjenige zahlen, der dieses verbotene Terrain betritt. „Im Sommer steht das Gras hier mannshoch“, sagt Valera. An den Tag der Katastrophe erinnert er sich Valera genau. „Alles war wie immer. Wir erfuhren nichts von dem, was in Tschernobyl passiert war.“ Am 1. Mai nahmen er und viele andere wie in jedem Jahr in Gomel an der Kundgebung zum Tag der Arbeit teil. Erst am dritten Mai hörten die Menschen im Süden Weißrußlands von dem Unfall.

Mit seinem in Stein gehauenen Namen begrüßt die Stadt Choiniki, das Zentrum der Region, ihre Gäste. Altes und Neues koexistieren hier friedlich miteinander. Von einem Plakat lächelt ein junger Soldat, den Wind und Wetter mit den Jahren etwas haben erbleichen lassen, und erhebt die Faust zum Kampf für den Kommunismus. Ein paar Meter weiter erinnert eine Holztafel in etwas frischeren Farben die Menschen daran, daß die Perestroika die Fortsetzung großer Taten ist. Ungerührt von alledem läßt Lenin von einem Sockel seinen Blick über den Marktplatz schweifen.

Zwei Frauen mit Kinderwagen überqueren die Straße. „Kinder werden hier geboren und wachsen auf, alles ganz normal. Die Menschen leben so, wie sie vor Tschernobyl gelebt haben. Sie denken nicht an die Katastrophe, es gibt sie einfach nicht“, sagt Valera. Das warme Wetter hat die Pfützen mittlerweile zu kleinen Teichen anschwellen lassen. Valera versucht, dem Wasser auszuweichen, so gut es geht. Das Lächeln aus seinem Gesicht ist verschwunden. „Jedesmal, wenn ich das hier sehe, tut mir das weh. Weißrußland war ein herrliches Land. Frühling, Sommer, die Natur, wir konnten sie spüren. Jetzt ist alles zerstört und es wird nie mehr so wie früher sein.“