Stützstrümpfe der Phantasie

■ Georg Herolds Lach- und Sacheinbauten in der Esslinger Galerie Villa Merkel

In Esslingen gibt es eine Hausbesetzung. Georg Herold ist in die Villa Merkel eingezogen und mit ihm eine Unmenge „Zeug“. Das beginnt vor dem Haupteingang mit einer Rampe aus industriellem Bimsstein. Sie hat keine Funktion, gibt aber einen Vorgeschmack auf die Sorte Baumaterial, die der Künstler für seine Ein- und Umbauten bevorzugt. Das Foyer ist mit weißen Kacheln ausgelegt. Ein Saum aus Kachelbruch – „Craquelé poétique“ – erinnert daran, daß wir uns in einem Kunstmuseum befinden. In der Mitte des Foyers, umrahmt von einer ionischen Säulenordnung, erhebt sich auf hölzernen Stelzen ein mit 240 Neonröhren nach außen strahlendes, im Innern finsteres Haus, dem der Prolog des Johannes-Evangeliums einen Namen gegeben hat: „Im Anfang war das Wort.“

Daß der Logos Gott selbst war und als Licht in die Finsternis leuchtete, davon ist bei Johannes die Rede; doch Herolds „House within His Darkness“ ist ein offenes Haus, das sich nicht bloß auf die Bibel festlegen läßt. So wie diese Urhüttenversion gebaut ist, stellt sie den Gegenentwurf zum Iglu von Mario Merz dar, und ein Monument grandioser Energieverschwendung.

Georg Herold liebt Dachlatten und Ziegelsteine, „dummes“ und kunstgeschichtlich unbelastetes Material, mit dem sich x-beliebige Metaphern zusammenzimmern lassen. Der 1947 in Jena geborene Künstler, der 1973 nach neun Monaten Haftstrafe (Fluchtversuch) in die Bundesrepublik abgeschoben wurde und seit geraumer Zeit in Köln lebt, läßt sich auf kein Programm festnageln. Seine Arbeiten entstehen unmittelbar aus der Beobachtung von Phänomenen oder aus Selbstbeobachtung. Und so, wie Herold seinen Standpunkt nach wechselnden Erfahrungen ändert, so wünscht er sich von allen, denen er mit Bimssteinmauern und grob vernagelten Gestellen den Blick auf die Kunst versperrt, eine eigene, möglichst lebensnahe Interpretation des Sichtbaren.

„Sehr geehrter Herr Präsident“, so pflegen Petitionen zu beginnen, doch nicht selten kommen die Antragsteller zu spät. Der Präsident hat seinen Platz geräumt, auf der Tischplatte über drei Holzböcken ein Haufen Stempel und aufgerollte Fahnen; unter dem Tisch drei Koffer, aus denen Zement quillt. Tischprovisorium und Beton reichen, um sich ein Bild vom Stil dieses Präsidenten und vom Ende seiner Karriere zu machen. Doch da gibt es noch etwas, das dieses Bild ergänzt: ein gehäkeltes schwarz-rot-goldenes Fähnchen, das nicht flattern kann, weil es vor einem verbarrikadierten Fenster ausgespannt ist, und eine Konstruktion aus Latten, Neonröhren und Kabelwirrwarr von geradezu aufreizender Instabilität – „Poesie électrique“. Der Stachel im Fleisch des Georg Herold ist Design und jegliche Kunst, die sich für ein schönes Finish prostituiert. Das Klischee von der schönen Kunst wird mit Klischees beantwortet.

Und die sind allesamt derb. Im „Literarischen Kabinett“ findet man auf einem Lesepult die etymologische Linie vom griechischen Logos zum Loch, zum Arschloch („Im Arsch ist's finster“), zu kölsch: „Im arsch is et loch(os)“. Auch die Freunde des Musealen kommen auf ihre Kosten. Es gibt Vitrinen mit in Formaldehyd eingelegtem Gemüse in Aquarien, eine Sammlung „Wasserstände“, auch solche, die sich in der Horizontalen halten, wenn die ganze Stellage ins Rutschen kommt – „Alles in Ordnung“. Im Raum nebenan ein Regal mit „Künstlerischer Medizin“, Gläser und Flaschen, in denen es vom „Prähistorischen Wasserspiegel“ bis zur „Verschlußsache! IM Spiegel-Wasser“ die ungewöhnlichsten Heilwässerchen zu entdecken gibt.

Der Kunst als Ort der Kompensation von Tristesse und Werteverlust rückt Herold mit einer Mischung aus Brutalismus und Reflexion zu Leibe. Ein Gestell aus Dachlatten und Neonröhren („L.A.B.T.H.“) parodiert kühn und betont nichtssagend die erhabenen Lichtinstallationen, mit denen Dan Flavin Architektur zu entmaterialisieren pflegt. Mit Dachlatten gegen die Meßlatten der systemgestützten Kunstvermesser. „Multiples aus den letzten fünfzehn Jahren“, die einen wesentlichen Teil von Herolds Bastelarbeit ausmachen, füllen in der Ausstellung gleich drei Räume. Die unendliche Geschichte vom Verschwinden der Kunst hat eine Fortsetzung in leeren „Multiple- Vitrinen“, bei denen sich der Betrachter mit aufgedruckten Fotos der Ausstellungsstücke zufrieden geben muß. Dafür wird er dann in der Beletage der Villa mit synästhetischen Erlebnissen entschädigt: ein „Amore“-Zimmer, in dem Abfälle rund um ein Matratzenlager von den Freuden der vergangenen Nacht erzählen, und nebenan ein Sortiment eingeweckter, mit Markenparfüms (Gucci, Lagerfeld u. a.) veredelter Socken. Die Werkgruppe der Bilder vertreten in dieser enzyklopädischen Schau eine Kaviarlandschaft und ein veritables Ölbild (Erdöl auf Bettlaken), schwarz, mit einem Rand aus bunten, gehäkelten Topflappen – frei nach Mandelbrot.

Georg Herold meint es ernst, wenn er mit so viel offensichtlichem Vergnügen seine groben, unscharfen (im Einklang mit Heisenberg) und absolut flüchtigen Gegenwelten zusammenbaut. Seine Erfahrung lehrt ihn: „Kunst ist für Kunsthistoriker immer ein Kunstfehler, wenn sie keine Definitionsmodelle vorfinden.“ Mit diesen Leuten und denen, die sich an ihre Fersen heften, möchte er möglichst wenig zu tun haben. Mit allen anderen macht sich der zu internationalen Ehren gekommene Herold einen Spaß, wenn er sie über Dachlatten, Bimssteine, Strumpfhosen und Unterhosen stolpern läßt.

Im Treppenhaus der Villa Merkel hängt ein seidener Wandbehang, grau mit eingesetztem Rot, dazu der Text „Damaged bei Design“ – das ist mehr als ein Teil und weniger als ein Programm. Gabriele Hoffmann

Georg Herold: „122 = 124“, bis 5. Mai, Städtische Galerie Villa Merkel, Esslingen. Katalog: 40 DM