Per Sie mit der Vergangenheit

Bis zum Kinn in einem Haufen alter Platten stecken, aber trotzdem die Sinuskurve kriegen: Stereolab aus London bringen die Archive der Popkultur zum Swingen. Das Sound-Labor für den konzeptuellen Grenzgänger von heute  ■ Von Martin Pesch

Das hätte er nicht sagen dürfen. Die alten Platten seien tot, verkündete Tim Gane, Gitarrist und Komponist der Londoner Band Stereolab, in der englischen Musikzeitschrift The Wire.

In den folgenden Ausgaben sah sich die Redaktion des renommierten Blattes gezwungen, einige Tim- Gane-hate-letters abzudrucken. Darin rüffelten musikgeschichtlich versierte Leser Gane ob seiner angeblichen Arroganz, mit der er sich über die Vergangenheit erhob – und das als Chef einer Band, die doch offensichtlich bis zum Kinn in einem Haufen alter Platten steckt. Etwas mehr Respekt bittet man sich doch aus.

Stereolab sind so retro, dagegen ist jedes zyklisch wiederkehrende Revival eines x-beliebigen Trends Avantgarde. Die Band befindet sich dabei aber im Zentrum eines um sie herum kreisenden Karussels pophistorischer Sounds. Und was sie vom Geschäft des stetigen Umschlags jeweiliger Hypes fernhält, ist ihr gänzlicher Verzicht auf modische Aspekte.

Der Blick zurück ist so intensiv, daß er das Auge für dessen möglicherweise lukrative Ausschlachtung in der Gegenwart blind gemacht hat. Man mag noch so sehr an der Sixties-Patina kratzen, die über ihrer Musik liegt, darunter findet man weder pseudoliebevolles Konservieren, à la Cardigans, noch trashiges Kokettieren à la Stereo Total. Im Unterschied zu diesen beispielhaft genannten Bands siezen Stereolab die Vergangenheit.

Was hat aber dann die erwähnten Wire-Leser so aufgebracht? Könnte man die Musik von Stereolab so hören, wie ein Scanner Barcodes liest, erschiene auf dem Display eine Reihe prägnanter Namen und Begriffe: Krautrock, Françoise Hardy, Easy Listening, Ambient, Space-Age-Pop, Burt Bacharach.

Aber solche Oberflächenreize wie auch dröhniges Repetieren einfacher Akkordfolgen, Benutzen alter Moogs, ausgefeilt mehrstimmige, teilweise französisch gesungene Gesangsmelodien auf wohlfeile Bezüge zu reduzieren – das wäre etwas zu einfach. Hinter dem unentwegten Verschachteln kinderliedartiger Melodien steckt eine ganz eigene Askese, fern von jeder Hipness.

Denn Stereolab arbeiten ausdauernd am Material Geschichte. Das Wiederholen simpler Muster ist eben grade nicht Krautrock, die gefälligen Melodien sind nicht nur Easy Listening, sondern spiegeln ein unendliches Bemühen, in der ewigen Wiederkehr des Immergleichen das für sich Adäquate langsam herauskristallisieren zu lassen. Auch Stereolab selbst sind als Band ein Kristall, an dessen Flächen sich unterschiedliche Entwicklungen treffen. Tim Grane war schon Gitarrist bei der Band McCarthy, die Mitte der achtziger Jahre zur vom New Musical Express lancierten Welle „Class of '86“ gehörte; eine Reihe junger, britischer Bands, die ihre Songs mit Gitarren begleiteten, die entweder ausgiebig lärmig (Velvet-Underground-Tradition) oder ausgefeilt jingle-jangle klingen durften (Byrds-Tradition).

McCarthy gehörten zur zweiten Sektion, besangen eine „Red Sleeping Beauty“ und meinten damit nicht eine schöne Rothaarige, sondern das zur Revolution zu erweckende Proletariat. Bei einem Auftritt in Paris lernte Gane Laetitia Sadier kennen. Als sie nach London zog und McCarthy verstärken wollte, löste sich die Band gerade einvernehmlich auf. Das Paar Sadier/Gane stand mit seinen Ideen alleine da. Das bot natürlich die Möglichkeit, sie in neuem Kontext noch mal grundsätzlich anzugehen.

Die zu McCarthy-Zeiten noch funktionierende Independent- Welt hatte sich inzwischen aufgelöst. Als Stereolab ihre ersten Veröffentlichungen auf Too Pure herausbrachten, waren sie bei einer Firma gelandet, die schon Ergebnis dieser Auflösung war. Die Labelpolitik von Too Pure bewegt sich auf der Grenze zwischen traditionellem Indie-Rock und neuen musikalischen Ansätzen, die von Sampling, Techno und verrückten Instrumenten geprägt sind. Bands wie Pram, Laika und Mouse On Mars haben in diesem Sektor für Aufsehen gesorgt. Stereolab standen mit ihrer Vergangenheitsbewältigung also in einem Umfeld, das die zukunftsträchtigsten Ergebnisse hervorbrachte.

Einerseits hat ihnen das die Aufmerksamkeit eines neuen Publikums verschafft. Andererseits konnten sie durch Tradierung von Formen, die auch schon für den Mittachtziger-Gitarrenpop wichtig waren, im Indie-Kosmos sozialisierte Musikfans überzeugen. Dieses Vermögen, verschiedene für die Pop-Geschichte der letzten zehn Jahre wichtige Szenen zu integrieren, läßt auch ihre dinosaurierhafte Beharrlichkeit mit einem nervösen Up-to-date-Sein verschmelzen.

Daß ihr nach den ersten LPs immer deutlicher werdendes konzeptuelles Grenzgängertum sich mit Pop verbinden läßt, ist auch der klaren, dunklen Stimme Laetitia Sadiers zu verdanken. In ihren Texten ist der linksradikale Gestus von McCarthy zu einer aufgeklärten Lethargie geronnen. Das hat weniger etwas mit dem Wechsel zu einer Majorfirma, mehr wohl mit John Major zu tun. Denn eineinhalb Jahrzehnte konservative Revolution haben die Möglichkeit linker Politik in England auf das Benennen ignorierter Themen und Utopien gestutzt.

Wenn Sadier also das Paradies erwähnt, ergänzt sie das sofort mit der Information, daß der Wärter noch immer on duty ist. Aber nicht nur davon handelt ihr Gesang. Ein 18minütiger Monstertrack wie „Jenny Ondioline“ (1993), der Berge von Sound anhäuft und Songstrukturen zermalmt, wird auch genießbar für Leute, die Sadiers französischen Akzent charmant finden. Außerdem sorgt sie zusammen mit Mary Hansen für einen Melodienreichtum, der sich vor dem monotonen Instrumenten-Hintergrund großzügig entfaltet.

Das neue, von John McEntire in Chicago produzierte Album „Emperor Tomato Ketchup“ wirbelt dieses gewohnte Zusammenspiel gehörig durcheinander. Dazu Tim Gane: „Jetzt verfolgen wir die Idee, mehr bouncy, groovy und funky zu sein. Die Räume, die wir den Melodien früher mit einem tonal primitiven Backing lieferten, versuchen wir jetzt durch Rhythmus zu öffnen.“

In der Tat ist die Platte geprägt von synkopierten Spielereien, die es bei Stereolab bisher nicht gab. Jeder Song bekommt ein eigenes Gesicht und ist mehr als bloße Variation eines durchexerzierten Grundthemas. „Irgendwann spürt man, daß es zu leicht wird, immer das weiterzumachen, was man kann. Eine unserer neuen Ideen war, simple Jazzriffs aus den späten Sechzigern zu übernehmen, etwas von Don Cherry, Pharaoh Sanders und insbesondere Sun Ra. Wir wollten natürlich keine Solos spielen, sondern eine simple rhythmische Folge als Gerippe haben. Darauf entwickelte die Band dann Schichten zirkulierender Tonfolgen.“

Die neuen Songs, die diesem Einfluß nicht eindeutig zuzuordnen sind, spielen mit konventionellen Mustern des Pop. Der schmissige Song findet sich genauso wie die melancholische Ballade. „Songs, die wir kürzlich für Charles Longes Installation ,Amorphous Body Study Center‘ komponiert haben, sind mehr an der Musik von Burt Bacharach orientiert. Das haben wir weiterentwickelt, insbesondere was die Orchestrierung einiger Stücke angeht.“

In diesen Aussagen werden historische Horizonte immenser Weite aufgerissen. Es wird aber schnell klar, daß die Band keine Eins-zu-eins-Abbildung der dabei zum Vorschein kommenden Elemente anstrebt. Songtitel wie „Metronomic Underground“ oder „Les Yper Sound“ machen auf einer Metaebene das eigene Vorgehen als Kommentar zum benutzten musikalischen Archiv deutlich.

Noch klarer wurde dies durch frühere LP-Titel wie „Transient Random-Noise Bursts With Announcements“, „The Group Played ,Space Age Bachelor Pad Music‘“ (beide 1993) und „Mars Audiac Quintet“ (1994). Auch das Artwork ihrer Platten, das von Plattennadeln, Sinuskurven und Synthesizer-Stecktafeln handelt, unterstützt das musikalische Konzept: Die Aneignung der Vergangenheit kann nur zeitgemäß sein, wenn sie auf Authentizitätswillen verzichtet und das ihr eigene Konstruieren vorzeigt. [Mein Gott, bin ich froh, daß ich in den Sechzigern ein Teenie war und mit so schnörkellosem Rock bzw. Blues eines Hendrix, Winter oder Morrison aufgewachsen bin - d. säzzer].

Dementsprechend sind die Bandmitglieder nie auf Platten zu sehen. Versteckt hinter Symbolen und einer Vielzahl von Veröffentlichungen – zu ihren regulären LPs kommen auf ihrem eigenen Label Duophonic erscheinende Singles, aus denen dann unregelmäßig wieder Compilations entstehen – bleiben die Musiker im Hintergrund. Eine Band, zu der man nicht einfach du sagt.

Stereolab: „Emperor Tomato Ketchup“ (eastwest/Wea)

Tourdaten (zusammen mit Sonic Youth): 3.4. München, 6.4. Marburg, 8.4. Berlin, 9.4. Hamburg, 10.4. Neu-Isenburg