Beispielhaft: Bau britisch

■ Bizarr und beeindruckend: Die englische Metropole London ist immer eine Reise wert, besonders für Architektur-Touristen Von Till Briegleb

Galt London noch vor zwanzig Jahren als Urlaubsziel für den konservativen Architekturgeschmack, so hat sich mit dem Durchbruch der britischen High-Tech-Generation das Bild völlig gewandelt. Der Strom der Architektur-Touristen in die Hauptstadt des Vereinigten Königreichs wird jährlich dicker, und diesmal kommen sie, um technizistische Ikonen wie Richard Rogers Lloyds Building oder britisches Zuckergebäck wie Terry Farrells postmodernen Bahnhofskitsch am Charing Cross zu bestaunen.

Bereits an den Stadttoren des interkontinentalen Zeitalters empfängt den Besucher in London Ingenieurs-Noblesse, wie sie sonst kaum eine europäische Stadt zu bieten hat. Nicholas Grimshaws Endstation des Kanaltunnelzuges eurostar am Waterloo-Bahnhof ist sicherlich das aufregendste Werk dieser Art. In einem Gebiet aus desolaten Hochhäusern und stinkenden Straßenbarrieren hat der elegant sich kurvende Dachpanzer aus Glas die Ausstrahlung eines Wunders. In all seiner Strenge verspielt im Detail und mit einer beeindruckenden Raumsogwirkung, die von einer Plattform des alten Bahnhofs auch der genießen kann, der nicht nach Paris oder Brüssel will, steht hier ein Bahnhofsneubau, dessen Qualität noch lange Bestand haben wird (150 Jahre hat British Rail geplant).

Aber auch wer umweltschädlich, aber schnell mit dem Flugzeug auf die Insel hüpft, wird von einem Terminal begrüßt, der die Vorherrschaft der britischen Architekten im Geschäft der Verkehrsbauten plausibel macht. Norman Fosters Flughafen Stansted vor den Toren der Stadt ist zwar nach einem ganz simplen Prinzip serieller Abschnitte und Säulenbäume gegliedert, aber auch hier ist das Resultat ein lichter, befreit atmender Raum, der von der engen Schäbigkeit oder aufgesetzten Großtuerei anderer Flughäfen nichts aufweist. Jedem bekannt wurde dieser durch den chauvinistischen Autowerbespot, in dem eine Frau ihren abreisenden Mann fragen muß: „Und wo ist der Tank?“ Dieser wurde hier gedreht.

Sicherlich weist die Stadt durch den Boom zeitgenössischer Architektur der vergangenen Jahre auch einiges auf, was man ohne eine gewisse Übelkeit kaum betrachten mag. Gerade in der City stehen viele dieser Sünden in Hochhausform herum, die eher aussehen, als hätten Walt Disney oder Dr. Oetker hier geplant. Gerade besagter Terry Farrell hat mit den städtischen Visitenkarten zur Themse hin – außer Charing Cross hat Farrell noch die Zentrale des British Secret Service in Vauxhall, zu sehen im neuen James Bond, und das Gebäude von MTV verbrochen – den Angriff der Gelatine gegen die Architektur betrieben. Und auch die Spekulations- und neuerdings IRA-Bomben-Ruine Canary Wharf hat außer Zitatsucht und Größenwahn wenig Qualitätvolles zu bieten.

Aber wer ein bißchen Zeit mitbringt, der kann in London dennoch bizarre und beeindruckende Entdeckungen machen. Etwa das in Form einer riesigen, gläsernen, bauchigen Arche gebaute Bürohaus von Ralph Erskine in Hammersmith, den Supermarkt- und Wohnhauskomplex von Grimshaw in Camden oder die Ausstellungsarchitektur diverser britischer Architekten im Museum für Naturgeschichte. Auch Rogers Fernsehsenderbau für Channel 4 im West End oder Grimshaws Druckereigebäude für die Financial Times in den Docklands sind Ausflüge wert, nicht zuletzt, weil auch das Reisen durch die Stadt immer etwas von echtem weltstädtischen Flair vermittelt.

Wer etwas Zeit und Muße mitbringt, der kann in einer Woche London einen intensiven Eindruck davon bekommen, wie auch hiesige Orte aussehen könnten, wenn man, statt mit biederer Lokalarchitektur die Städte zu verstopfen, etwas Mut zur Schönheit hätte. Gerade das spannende Verhältnis von Neu und Alt ist in der englischen Hauptstadt selbst bei den mißratensten Produkten immer noch interessanter als die Einheitsgarderobe hiesiger Zunft. Ein kompetenter, kleiner und quadratischer Architekturführer von Artemis kann bei der Expedition ins Empire der Architekten sehr hilfreich sein.