Touristensafari im Osten

Rund um den Kollwitzplatz gibt es demnächst über 100 Kneipen und Cafés. Die Anwohner wollen sich nun gegen den gastronomischen Overkill wehren  ■ Von Uwe Rada

Langsam zuckelt der Reisebus die Kollwitzstraße entlang. An der Ecke Wörther Straße signalisiert das Zischen der Hydraulikbremse, daß der langersehnte „Landgang“ bevorsteht. Unsicher und mit aufgesetztem Lächeln folgen die Touristen ihrem Reiseführer in den Hinterhof eines besetzten Hauses. Kurze Zeit später tauschen die Ostexpediteure ihre Erfahrungen in einer der Gaststätten am Wasserturm aus.

„Ossigucken in Prenzlberg“ nennt eine Boulevardzeitung den „neuen Touristenspaß“. Der Ruf als Künstler- und Kneipenviertel eilt Prenzlauer Berg mittlerweile bis in die letzten Käffer des Rothaargebirges voraus. Doch nur selten bleibt die Szenesafari so harmlos putzig wie im folgenden Wortwechsel: „Jetzt haben wir das Stadtviertel Prenzlauer Berg gesehen“, nervte am Kollwitzplatz ein Tourist seine Begleiterin, „aber wo ist jetzt das Künstlerviertel?“

Daß sich das „Künstlerviertel“ in den letzten Jahren den Touristen jeder Preisklasse – Reisebusrentner, Rucksackautonome, Lifestyleexpediteure – vor allem als gastronomischer Riesenrummel präsentierte, wollen die Anwohner nun nicht mehr länger hinnehmen. „Die Grenze ist erreicht“, sagt Nilson Kirchner, Mitglied der Betroffenenvertretung Kollwitzplatz.

Als Ende des vergangenen Jahres bekannt wurde, daß die letzte Seniorenfreizeitstätte am Kollwitzplatz einem Edelitaliener weichen sollte, hat die Betroffenenvertretung den Sanierungsträger S.T.E.R.N. beauftragt, die Versorgung des Gebiets mit Kneipen und Cafés zu untersuchen. Ergebnis: Einschließlich der genehmigten Kneipen werden im Sanierungsgebiet Kollwitzplatz demnächst 100 konkurrierende gastronomische Einrichtungen das Geschäft beleben. „In den anderen Sanierungsgebieten im Bezirk ist das längst nicht so schlimm“, sagt Kirchner, „aber rund um den Kollwitzplatz konzentriert sich das“. Nachdem 1992/93 die Kneipen am Wasserturm und in der Knaackstraße den Auftakt machten, rollt mittlerweile die dritte Gründerwelle von Kneipen und Restaurants auf die Kiezbewohner zu. Bevorzugter Ort ist diesmal der Kollwitzplatz selbst. Sechs Kneipen gibt es bereits direkt am Platz. Eine weitere ist genehmigt, im sozialen Wohnungsneubau der WIP, an der Stelle, wo einmal die Plastik von Käthe Kollwitz stand. Die Kiezkultur ist dabei, einer fragwürdigen Kneipen„kultur“ zu weichen: Wo früher das Theater ohne Namen seinen Platz hatte, ist ebenfalls eine Kneipe im Gespräch, und die alte Postfiliale an der Ecke Husemannstraße mußte längst dem Café Santiago weichen.

Für Betroffenenvertreter Kirchner ist das ein Teufelskreis: „Die Kneipen treiben die Gewerbemieten nach oben“, sagt er, „und die Hauseigentümer sehen natürlich nicht ein, warum sie weniger verlangen sollen als ihre Nachbareigentümer.“ Dasselbe gilt für die Bierpreise: „Den Touristen ist es egal, ob sie fünf Mark fürs Bier zahlen“, sagt Kirchner, „den Anwohnern nicht.“

An einer anderen Ecke des Kollwitzplatzes will Kirchner nun ein Exempel statuieren. Wo heute noch eine Kinderbibliothek die Kleinen zum Lesen animiert, soll nach dem Willen der Eigentümer ebenfalls eine Kneipe entstehen. Bölkstoff statt Lesestoff. „Das wollen wir verhindern“, sagt Kirchner und richtet seine Forderung an die Sanierungsverwaltung des Bezirks. Doch dort wird munter weitergenehmigt. Eine Sorglosigkeit mit Parallele: Als in Kreuzberg rund um den Lausitzer Platz ab 1987 eine Spielhalle nach der anderen aus dem Boden schoß, reagierte das Bezirksamt erst, als es schon zu spät war.

Zwar blieb die befürchtete Verdrängung der Anwohner durch zahlungskräftige Möchtegern- Prenzlauer-BergerInnen bisher weitgehend aus, wie S.T.E.R.N.- Mitarbeiter Christian Schmidt- Hermsdorf weiß. Doch die unteren Etagen der Gründerzeitgebäude signalisieren, daß im Geschäft mit dem künstlichen Image einer Künstlerwelt bisher auch die zahlungskräftigen auswärtigen Konsumenten ausreichen. Gegenwärtiger als die befürchtete soziale Verelendung ist die städtisch-kulturelle: Im Kiez um den Kollwitzplatz droht eine öde Nutzungseinfalt aus dem Boden gestampft zu werden, wie es sie, dank der gewachsenen Gewerbemischung, in den Westbezirken bisher noch nicht gegeben hat. Selbst Experten wie der Architekturkritiker Wolfgang Kil warnen inzwischen vor dem Freizeitpark Prenzlauer Berg. „Wenn nicht bald etwas geschieht“, sagt er, „droht dem Prenzlauer Berg dasselbe Schicksal wie der Oranienburger oder der Auguststraße“: eine einseitige Kneipen- und Galerielandschaft zu werden.