Der Mond bezaubert Vulkane

■ Zeitgenössische Musik frisch von den Kanarischen Inseln

„Beneharo verlor den Verstand, warf von sich Diadem und Zepter, und umherirrend auf den Höhen ging er von Hügel zu Hügel und erschreckte das Herdenvieh mit seinen tiefen Klagen, mit Wut- und Schmerzensgeschrei und Flüchen gegen den Himmel, die Adler und Raben dort oben in ihren Flügeln auffingen. Guañoth! Achamán!“

„Guañoth! Achamán!“ (Rette mich, Gott!), der Verzweiflungsruf des Guanchenkönigs Beneharo zieht sich als Leitmotiv durch die 25minütige „Cantata del Mencey Loco“, die die Invasion der Kanarischen Inseln durch die Spanier zum Inhalt hat. Die Kantate ist das Kernstück von „Atlantida“, dem neuesten und nunmehr 39. Album der Gruppe „Los Sabandenos“, die auf den Kanaren überaus bekannt ist.

Abgesehen vom Gesang des verrückten Königs ist dieses Werk stark von Südamerika beeinflußt. Wie schon die Liste der mitwirkenden Gaststars und die der Komponisten einiger Lieder zeigt: Sie kommen aus Uruguay, Argentinien, Venezuela und Kuba. Diese Musik spiegelt die Situation der Inseln im Atlantik wider. Durch ihre geographische Lage fungierten sie stets als Bindeglied zwischen Europa und Amerika. Kanarische Emigranten nahmen ihre Musik mit, wenn sie nach Kuba, Venezuela oder zum Rio de la Plata auswanderten. Sie waren von spanischen und afrikanischen Einflüssen ebenso geprägt wie von den Tänzen Tajaraste und Sirinoque der Ureinwohner (Guanchen). In ihren neuen Heimatländern nahmen die Einwanderer neue musikalische Strömungen auf und brachten sie bei ihrer Rückkehr oder bei Besuchen auf die Inseln zurück. Gruppen wie „Los Sabandeños“ auf Teneriffa oder das 1974 gegründete Trio „Taburiente“ (La Palma) verschmelzen seit Jahren die verschiedenen Musikrichtungen zu einem eigenen kanarischen Stil, der auch Elemente des Rock, Jazz oder Reggae aufnimmt.

Damit trafen sie den Nerv der Zeit. Denn die Rückbesinnung auf die eigene kulturelle und musikalische Tradition ging einher mit einem wachsenden Selbstbewußtsein und vorsichtigen politischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Die Popularität dieser Gruppen reichte bald weit über über die Kanarischen Inseln hinaus.

Wesentlich kanarenorientierter ist „A Tierra“, die neue Platte von Taburiente. Da spielt eine Blaskapelle, wie man sie bei Festlichkeiten auf der Plaza von Santa Cruz de La Palma antreffen könnte, und die drei Musiker Luis Morera, Miguél Pérez Acosta und Manolo Pérez besingen den Alltag auf den Inseln, den Ringkampf „Lucha Canária“, die Gespräche über diesen Lieblingssport der Kanaren, aber auch Umweltprobleme durch die Zunahme des Tourismus. Dazu gibt es Liebeslieder, ein iberisches Wiegenlied und eine leicht kitschige Hommage an César Manrique, den verstorbenen Künstler, der Lanzarote mit seinen touristischen Inszenierungen geprägt hat: „Der Mond, der die Vulkane bezaubert, erleuchtet die Muse deiner Felsen.“

Insgesamt sind „Atlantida“ und „A Tierra“ zwei erfreuliche Dokumente zeitgenössischer kanarischer Musik und zudem auf vorbildliche Weise mit erklärenden Kommentaren und deutschen Textübersetzungen versehen. Matti Lieske

Los Sabandeños: Atlantida;

CD 68.975

Taburiente: A Tierra; CD 68.976

Tropical Music, Marburg/Lahn (Vertrieb: BMG Ariola)