Sehnsucht nach Kartoffeln und Kultur

Der Südwestfunk ging vor 50 Jahren zum ersten Mal auf Sendung. Hörerinnen und ein Moderator erinnern sich an Radio als Überlebensmittel. Literatur und Schlagermusik, „das war wie eine Erlösung“  ■ Von Uli Fuchs

Ein paar Schritte über die Straße, schräg gegenüber vom Landgericht, im Friedrichsbau, hat für Wolfgang Leppert damals alles angefangen. Hier hatte der Südwestfunk (SWF) sein erstes Freiburger Studio, als er am 31. März 1946 erstmals aus Baden-Baden auf Sendung ging – am Tag vor der Kartoffelsperre und dem Todesurteil. Saatkartoffeln waren so knapp, daß von Amts wegen die Abgabe von Speisekartoffeln an Verbraucher verboten worden war. Ein Schock in Hungerzeiten.

„Kartoffelsperre nur vorübergehend“ macht die Dienstagausgabe der Badischen Zeitung Mut. Im Kleinanzeigenteil, es ist der 2. April, bietet Albert Merkel „20 junge Zuchthasen, 9 bis 15 Wochen alt“, im Tausch „gegen Setzzwiebeln und frühe Saatkartoffeln“. Heinrich Weilermanns Leben ist dagegen am 2. April schon keinen Pfifferling mehr wert.

„In seiner Sitzung am Montag hatte nach längerer Pause wieder ein ordentliches deutsches Gericht in Freiburg über Leben und Tod eines Menschen zu entscheiden“, meldet die Lokalredaktion. Gerade nach einer Zeit, die den Wert des Lebens nicht geachtet und Millionen von Menschen geopfert hat, gilt es jetzt, dem Menschenleben wieder den notwendigen Schutz angedeihen zu lassen, hat der Staatsanwalt gemahnt – und das Leben von Heinrich Weilermann gefordert. Das Landgericht verhängte über den Zwanzigjährigen, der seine Exchefin erschossen und beraubt hatte, die Todesstrafe.

Wolfgang Leppert arbeitete neben seiner Schauspielausbildung als freier Mitarbeiter beim SWF und war dann – nach einem zweijährigen Ausflug zum Theater – vierzig Jahre Redakteur im Freiburger Haus des Baden-Badener Muttersenders. Auch nach acht Jahren im Ruhestand ist seine Stimme die des Radiomannes geblieben, der das Schauspielhandwerk gelernt hat. „Ach“, sagt der 72jährige, „es war eine herrliche Zeit!“

Damals, ganz zu Anfang, war eher Ausdauer als rhetorische Kunst gefragt. Zu Lepperts ersten Aufgaben zählte das Verlesen von Heimkehreradressen. Tag um Tag und Stunde um Stunde gingen sie über den Sender. Name, Truppenteil, Adresse. Name, Truppenteil, Adresse. „Es war wie ein Staffellauf“, sagt Leppert, „wenn einer nach soundsoviel Seiten nicht mehr konnte, wenn auch das Wasser nicht mehr half, das wir auf dem Tisch stehen hatten, dann hat der nächste weitergemacht. Zwei, drei Stunden am Tag ging das so. Die Leute warteten doch alle darauf, ihre Angehörigen wiederzusehen.“

Wenn der Radiomann in Schwung kommt, geht er auf Sendung. Man kann dann noch einmal dabeisein, wenn, während das kleine Orchester live aufspielt, im Studio das Ofenrohr mit großem Getöse zusammenbricht und statt flotter Tanzmusik wildes Tohuwabohu und Feuerlöschereinsatz in Wohnstuben und Küchen übertragen werden. Man darf mitlachen, wenn der Reporter zu seinem Schrecken nichts auf dem Band hat, als er vom Hüttenabend zurückkehrt. Wenn flugs der Nachbar mit der Ziehharmonika einbestellt wird, Techniker den Grummelchor im Hintergrund geben, das prasselnde Kaminfeuer aus Zeitungsrascheln entsteht.

Und diese Mädchensinggruppe aus Endingen. „Herzig“, sagt Wolfgang Leppert. Ein Feiertag war das für die Mädchen, wenn sie zum Funk durften. Aufnahmen machen, live singen. Oder die vier Musiker vom Sinfonieorchester, die sich zu einem Streichquartett zusammengetan hatten, die Pianisten aus der Stadt, die einheimischen Komponisten – ohne das Radio hier hätten die doch alle nie eine Plattform gehabt.

Selbst ein Hörspiel fürs Radio haben sie damals noch einfach mal selbst produziert. „Die Weiße Rose“ zum Beispiel, kein einziger Schauspieler war da dabei. Reporter, Büroangestellte, alle haben Rollen übernommen. „Herrlich!“ sagt Wolfgang Leppert.

Überhaupt die Hörspiele. Wenn Hörspielabend war beim Südwestfunk, haben Lepperts – „hach, wir waren hörspielbesessen“ – sich zu Hause hingesetzt und zugehört. „Wirklich zugehört“, sagt Wolfgang Leppert.

„In der Küche hat das Radio bei uns gestanden, und wissen Sie, wie es da zugegangen ist?“ Die 73jährige Gretel Bechtold hat ein prächtiges Gedächtnis. „Gekocht wurde, Hausarbeiten wurden gemacht, der Student, der bei uns gewohnt hat, mußte da arbeiten, es war der einzige Raum, der geheizt war, die Familie des französischen Besatzungsoffiziers, der bei uns einquartiert war, hat sich in der Küche aufgehalten, auch gekocht, das Kind gebadet – da gab es doch keine Muße, um Radio zu hören.“

Gespielt hat es im Hintergrund, das ja. Auch wenn die Heimkehrermeldungen gesendet wurden – „stumpfsinnig war das, wir hatten ja niemand, auf den wir warteten, mein Bruder war gefallen“.

„Vorher war das Radio wirklich lebenswichtig“, sagt Gretel Bechtold, „bevor der Krieg zu Ende war. Weil wir da immer BBC und Radio Beromünster gehört haben.“ Was gut zu empfangen war, oben im Schwarzwald, bei Schluchsee, wo Familie Bechtold nach dem großen Bombenangriff auf Freiburg ihr Fluchtquartier gefunden hatte. Als dann die französischen Truppen in die Schwarzwalddörfer einrückten, haben sie die Radios konfisziert und viele einfach kaputtgeschlagen oder auf den Misthaufen geworfen. Bechtolds durften ihres behalten, weil sie Evakuierte aus Freiburg waren. Weil die Franzosen, glaubt Gretel Bechtold, „so geschockt“ waren von dem, was sie in Freiburg gesehen hatten.

1946 kam die 23jährige wieder zurück nach Freiburg und arbeitete als Trümmerfrau in der Stadt, in der immer noch dieser „süßliche Geruch nach Leichen“ hing, in der man auch fast ein Jahr nach Kriegsende noch das Gefühl hatte, „man müßte für immer in diesem Dreck hausen“. Aber wer kann sich das heute noch vorstellen? „Wir müssen“, sagt Gretel Bechtold, „alle ausgesehen haben wie die Rüben, die wir immer gegessen haben: grau.“

Und wer kann sich vorstellen, daß das zusammenpaßte: Die Sehnsucht nach Kartoffeln und Kultur? „Wir waren total ausgehungert – nach Kino, nach Theater, nach Konzerten.“ Die neuen Schlager, die aus dem Radio kamen, hat sie – „ich war mehr für das Klassische“ – nicht gemocht. Aber daß die Menschen die Schlager auf der Straße und überall geträllert und gepfiffen haben, war auch für Gretel Bechtold „wie eine Erlösung“.

„Wissen Sie, man hatte einfach eine große Hoffnung – es gab wenig zu essen und wenig zu kaufen, aber diese Hoffnung hat einem geholfen, die Zeit trotzdem schön zu finden.“ Ilse Fischer ist 76 Jahre alt. Das Radio, sagt sie, „ist einfach ein Stück meines Lebens“. Seit sie fünf war, hat sie Radio gehört. Und als sie nachts in Müllheim die Straße, wo sie heute noch wohnt, auf den Berg hinaufgegangen ist und gesehen hat, wie das nahe gelegene Neuenburg lichterloh in Flammen stand, war sie schon über zwanzig und hat gedacht: Als nächstes trifft es uns.

So weit ist es dann doch nicht gekommen, und weil in der ländlichen Gegend in der Nachkriegszeit Nahrungsmittel leichter zu beschaffen waren, war das Leid hier nicht so groß wie anderswo. Aber „ein Leben ohne Radio“, sagt Ilse Fischer, „das wäre doch gar nicht gegangen, es gab ja sonst nichts. Es war ein leerer Raum, der gefüllt werden mußte, und dafür war das Radio wichtig.“

„Hier“, sagt sie, „stand der Sessel vom Papa, hier saß die Mama, da war mein Sessel – und die Mitte war das Radio.“ Ilse Fischer ist ein Radiophänomen, ohne es zu wissen. Sieben Geräte besitzt sie: darunter das große, gute für Konzerte, das tragbare für den Garten und fürs Bad, das wunderbare Museumsstück, das ihr schon lange ein Radiohändler abschwatzen will, und das im Schlafzimmer, auf dem sie das erste und zweite Programm des Südwestfunks und France Musique einprogrammiert hat – und den Deutschlandfunk, weil da die Nachrichten nicht so regional zugeschnitten sind.

Bis heute wird der Tagesablauf von Ilse Fischer auch durch das Radioprogramm bestimmt. Halb neun mit dem Schulfunk ins Bad, „das mache ich gern“, die Mittagsruhe mit den Literaturlesungen im Südwestfunk. Alle 52 Folgen von „Sofies Welt“ hat sie im Liegestuhl im Garten gehört – auch wenn heute nicht mehr so schön gelesen wird wie seinerzeit, als Manfred Schradi – „wunderbar!“ – die „Odyssee“ in 70 Folgen gab.

Direkt nach dem Krieg hat Ilse Fischer alles, was im Radio kam, förmlich aufgesogen. Draußen in der kleinen Müllheimer Welt hat sie so die große Literatur kennengelernt, erschüttert – „unvergeßlich“ – Borcherts Heimkehrerdrama „Draußen vor der Tür“ gelauscht, zum ersten Mal erfahren, wie schön die Matthäus-Passion ist, und mit Spannung die ersten Reportagen gehört: „Gut fand ich es, wenn die Reporter richtig ins Leben hineingegangen sind, in die Fabriken, zu den Menschen, die von ihrem Alltag und ihren Sorgen erzählt haben.“

Ja, sie hat damals auch Sendungen gehört, die sich mit der Nazizeit beschäftigt haben, sagt Ilse Fischer. Auch das sei wichtig gewesen. Aber konkret daran erinnern kann sie sich nicht mehr. Auch nicht Gretel Bechtold: „Heute kann man das vielleicht schwer verstehen, aber die Vergangenheit, das war für uns erst einmal vorbei, für uns gab es nur die Zukunft, wir träumten von Europa.“ Und Wolfgang Leppert: „Wir haben ein total unpolitisches Radio gemacht.“

Lotte Paepckes Radio war politisch. Sie ist als Jüdin in Freiburg aufgewachsen, als Frau eines „Ariers“ hat sie den Faschismus in Deutschland überlebt. „Es tut mir leid“, sagt sie, „aber ich kann mich wirklich nicht mehr an diese Zeit erinnern. Vor zwei, drei Jahren wäre es vielleicht noch gegangen, jetzt nicht mehr.“ Damals, nach dem Krieg, hat Lotte Paepcke für die Erinnerung gekämpft. Für die Erinnerung aller. Auch im Radio.

Und jetzt? Das Manuskript von damals einfach wieder beiseite legen? Lotte Paepckes Beitrag wurde 1949 gesendet. Als die Techniker des Südwestfunks für die Spätschicht schon nicht mehr mit drei Extrakartoffeln entlohnt wurden.

„Ich möchte gern mit Ihnen sprechen“, heißt es am Anfang von Lotte Paepckes Manuskript – „wirklich, sehr gern. Worüber? Am liebsten einfach über das Wetter, wenn ich ehrlich sein soll.

,Was soll das?‘ denken Sie jetzt. ,Gespräche über das Wetter sind doch meist nur Ausreden, wenn man nichts Eigentliches zu sagen hat.‘ Ja, Sie haben recht. Ich möchte über irgend etwas mit Ihnen sprechen können, was ganz unverfänglich ist. Irgend etwas ganz Gleichgültiges würde mir guttun – und auch Ihnen, uns beiden. Denn in Wirklichkeit, wenn wir uns gegenüberstehen, sagen unsere Stimmen unhörbar etwas ganz anderes. Sie sagen: ,Ach so, Sie sind übriggeblieben.‘ Meine Stimme sagt: ,Ja, ich bin übriggeblieben. Nur meine Familie ist umgekommen.‘ Dann sagt Ihre Stimme: ,Aber glauben Sie mir: Ich habe niemanden von Ihnen getötet.‘ Und ich sage: ,Oh, ich glaube es Ihnen. Wir wollen ja doch auch gar nicht mehr von all dem Vergangenen sprechen, sondern miteinander zur Tagesordnung übergehen.‘ Und dann versuchen wir es beide mit dem Wetter. Aber es will uns nicht glücken.