Die Alpenluft gebärt groteske Welten

■ Drei Premieren in Hamburg / I.: Coax-Productions überhebt sich an der „interaktiven“ Tanzshow „Sensation Death“

Nach der Intention des Produzentenquartetts hätte Sensation Death eine Kritik von Game-Shows werden sollen, die nicht einfach die dortige Praxis überspitzt. Die Choreographin Rica Blunck, der Computerkünstler Gérard Couty, der Schriftsteller Andreas Ammer und der Musiker F.M. Einheit wählten also künstlerische Abwege statt satirischer Überzeichnung, um aufzudecken, welche menschenverachtenden Methoden hinter den fröhlichen TV-Spielen stecken.

Darum ist alles etwas anders als bei Ulla Kock am Brink: Die Moderatorin moderiert nicht, sondern philosophiert über das Sterben, die Todeskandidatinnen kämpfen nicht, sondern tanzen eine vorgezeichnete Choreographie, die „Führer“ der Tänzerinnen an den Computerterminals spielen überhaupt nicht mit, weil der Computer tatsächlich weniger interaktiv als beherrschend ist, und die Musik weiß nichts von Erkennungsmelodien und Funktionsmusik, nach denen solche Shows verlangen.

Nun wäre es nicht schlimm, daß dies Spiel kein wirkliches Spiel ist, wenn es das erkennbare Konzept von Sensation Death gewesen wäre, den Glauben an Gameshows durch krasse Zerteilung in autistische Einzelteile zu zerstören. Aber der Ansatz, ein wirklich interaktives Spiel auf die Beine zu stellen, für das ein ungeheurer, technischer Aufwand betrieben wurde, setzt voraus, daß man die Grundregeln dieser Shows akzeptiert und sie nicht einfach nach Belieben außer Kraft setzt.

Da es den vielen Köchen so einfach nicht gelingen kann, die typische Dramaturgie der Erregung und Erlösung aufzubauen, mit der die Originale ihre Zuschauer ködern, verliert sich das Stück in Spannungslosigkeit. Dabei sind die Einzelteile gar nicht schlecht. „Moderatorin“ Regina Vorbau erfüllt ihren zynischen Monolog mit teilweise packender Widerwärtigkeit, Rica Blunck findet für ihre fünf Tänzerinnen manchmal durchaus einprägsame Bilder, und auch der Bühnenkäfig und die Computergrafik Coutys sowie die Musik des ehemaligen Einstürzende Neubauten-Mitglieds F.M. Einheit haben für sich Größe. Nur findet das alles nicht zusammen in einem Theaterkonzept, das vermitteln könnte, warum solche Shows Selbstmorde nach sich ziehen oder was das Perfide an dem Entblößen menschlicher Gier ist.

Der Film Running Man mit Arnold Schwarzenegger, der direktes Vorbild von Sensation Death war, ist – wenn man den Hollywood-Kitsch daraus abzieht – hier viel weiter gegangen. Dort wurde konsequent zu Ende gedacht, welches mörderische Potential in den harmlosen Spielchen steckt.

Vielleicht fehlte es bei Sensation Death weniger an dem Mut, die Gesetze der Schadenfreude und der Sensationsgier auf die Spitze zu treiben, als an der fehlenden Souveränität im Umgang mit einem großen technischen Apparat, der soviel Zeit und Konzentration verlangt, daß man den Kern des Geschehens aus dem Auge verliert. So gesehen hat Sensation Death noch eine echte Chance der Überarbeitung. So wie es jetzt steht, funktioniert es auf jeden Fall nicht.

Till Briegleb

II.: Elke Lang ist Jürg Laederachs „Fräulein Stefan“ in den Kammerspielen

Der Drang, die Panzer der Verlogenheit, des Selbstbetruges und des Heuchels zu sprengen, mit denen der gewöhnliche Spießer das freie Leben beschießt, führt in den beiden an Deutschland grenzenden Alpenländern oft zu suprasurrealen Gebilden. Elfriede Jelinek, Werner Schwab oder Christoph Marthaler seien nur als Stellvertreter derartiger Verdauungsleistungen genannt, die in der alpinen Luft für intelligente Leute scheinbar unausweichlich werden.

Auch Jürg Laederach gräbt tiefe Stollen in das Unterbewußte seiner Mitmenschen, um daraus überaus Beklemmendes und Ekeliges zu befördern. Und auch er sucht sich eine Form absurden Humors am Rande des Zynismus, um dieses Material in bühnenverträgliche Beschreibungen zu überführen. Fräulein Stefan etwa ist ein derartiges Subjekt mit einer gewissen Allgemeingültigkeit. Als Angestellte in einem „Büro für Menschenvernichtung“ erlebt sie nicht nur die Demütigungen ihres Chefs und einer Kollegin, sondern auch der eigenen Wohnung, die sie immer wieder vor die Tür speit, oder des Abfalleimers, der sich vor ihr erbricht.

Ulrich Waller, der die Adaption eines Prosatextes von Laederach jetzt an den Kammerspielen herausgebracht hat, spürt der Groteske nach und vernachlässigt ein wenig die Tragödie. Elke Lang als Fräulein Stefan ist dementsprechend weniger das bemitleidenswerte Geschöpf unsäglicher Drangsale als eine souverän ihre Leiden ausbreitende, kluge Frau, die ein Erlebnis in der Hinterhand hat, das ihr das Rückgrat stärkt.

Auf die Pointe dieses Erlebnisses hin entwickelt sie ihren Monolog in einem kalten Treppenhaus, vor ihrer Haustür. Und somit begreift man erst rückblickend, warum diese Frau bei all ihrem Leid noch so selbstbestimmt bleibt.

Fräulein Stefan ist kein Stück für fröhliche Gehässigkeit und sicherlich auch keine tiefe Menschenstudie. Aber als einstündige Late-Night-Vorstellung bietet Elke Langs Solo ein Stück intelligente Unterhaltung.

Till Briegleb

Erinnern Sie sich an die bewegende Szene aus der Zeichentrick-Heidi, in der Klara plötzlich laufen kann? Ach, wie glücklich sind die Alpenbewohner, deren klare Luft die schlimmsten Leiden heilt. Da tanzen alle vor Freude ob dieser schönen, heilen Welt!

Familie Holzer im alpenländischen Kleinseelen findet die Welt eigentlich auch ganz schön, nur fehlt's am nötigen Kleingeld. Die Landwirtschaft wirft nichts ab, und die Touristenbusse brettern durch das Dorf, machen hier höchstens mal Pinkelpausen. Da kommt Hans Junior die glänzende Idee, Besuchern gegen Geld Einblick ins au-thentische Landleben zu gewähren. Automatische Rolläden werden installiert, auf Münzeinwurf geben sie den Blick in die gute Stube frei. Bald haben Holzers ihre Performance so perfektioniert, daß sie die Heidi-Szene in vier Sprachen aufführen können.

Holzers Peepshow steht im Zentrum der Heimatsatire, die das Altonaer Theater seit Samstag präsentiert. Wie zu dem Spektakel der fünf Eingeborenen hat Markus Köbeli für sein Stück Fassungen in mehreren Sprachen entworfen: Schweizerdeutsch, Österreichisch und Hochdeutsch. Auf der Bühne stehen nun Schauspieler aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland, es handelt sich also um eine multikulturelle Darbietung, die Hamburger Zuschauern jedoch als recht einheitlich fremd begegnet. Schnell hat man sich in die Dialekte eingehört und freut sich über das Engagement der Darsteller, die Situationskomik wie wilden Klamauk beherrschen.

Was die Theaterfreuden leicht einschränkt, ist Köbelis Wille, neben der Touristik-Idee noch Ausländer-, Ehe- und Generationenproblematik in das Stück zu zwängen. Und warum Klaus Falkhausen (Regie) und Christiane Nöfer (Bühne) darauf verzichten, auch den Zuschauer durch das Fenster spähen zu lassen – das bleibt den auf die offene Bühne Blickenden leider verschlossen.

Nele-Marie Brüdgam