Knoten im Kopf

■ betr.: „Mit Öcalan auf dem Weg nach rechts“, taz v. 21.3.96

Worüber Seidel-Pielen sich in den letzten Tagen am meisten entrüstet hat, wurde mir beim Lesen seines Artikels klar: über die Rhetorik von Teilen der „PKK-Solidaritäts-Szene“ – nicht über die Aushöhlung der Rechte von AusländerInnen, das Verhängen des Ausnahmezustands über diverse deutsche Städte und die Presseattacken zum „Kurdenterror“. Ausgerechnet der Sprachgebrauch jener verschwindenden Minderheit in Deutschland, die trotz der staatlichen Propaganda ihre Solidarität mit der unterdrückten kurdischen Minderheit zeigt, treibt den „freien“ Publizisten um. Seine Kollegen von der verbotenen Ozgür Gündem werden das am besten verstehen.

Seidel-Pielen weiß, daß in Kurdistan (also im „Südosten der Türkei“) „Menschen getötet, Massaker verübt, Dörfer zerstört, ganze Landstriche entvölkert“ werden, aber wer in diesem Zusammenhang von Völkermord spreche, sei ein ganz übler rechter Kumpan und relativiere Auschwitz. Dies halte ich schlicht gesagt für einen Knoten im Kopf. Mit diesem Argument verdreht Seidel-Pielen die Zusammenhänge und erweist sich als Teil der Regierungsstrategie, den Protest gegen das Morden der türkischen Militärs von der deutschen Öffentlichkeit zu isolieren. Um so betrüblicher ist es, daß Seidel-Pielen mit solch überzogenen Vorwürfen nötige Diskussionen im Keim erstickt: die Diskussion über Brandanschläge auf türkische Einrichtungen, die eher heute als morgen aufhören müssen, die Diskussion über das PKK-Verbot, das in der Praxis auf alle angewandt wird, die irgendwie ausländisch aussehen (wie in Dortmund) und das von der Bundesregierung bezweckte Unheil angerichtet hat, die Diskussion über deutsche Waffenexporte in den Nordwesten (?!) der Türkei. Mit seinen diffamierenden Angriffen wird er die Solidaritätsszene kaum erreichen, was wohl nicht sein eigentliches Anliegen war. [...]

Der Vorwurf, die Soliszene befürworte ethnisch reine Zonen, verdreht die Tatsachen ähnlich wie seine Auschwitz-Relativierungs- These. Nicht die Kurden haben den Türken das Feiern ihrer Feste und das Sprechen ihrer Sprache (auf den Ämtern) verboten und ihre Parlamentarier verhaften lassen. Friedliche Koexistenz, multikulturelles Zusammenleben kann es erst geben, wenn man die Kurden nicht mehr als „Bergtürken“ betrachtet, ihnen ihre Rechte zurückgibt und die Waffen schweigen. Momentan herrscht Krieg. [...]

Wenn Seidel-Pielen ernsthaft glaubt, die Polizei hätte zu Zeiten von Rostock, Magdeburg und Mannheim das Durchsetzen des Gewaltmonopols nur noch nicht richtig gelernt, dann kann er ruhig weiter für die taz schreiben: Auf der Wahrheitsseite! [...] Stefan Wirner, Berlin

Mit Freude vernehme ich, daß Herr Seidel-Pielen dem Volk voll aufs Maul geschaut hat und diese breite bundesdeutsche Öffentlichkeit für demokratisch und sogar kurdInnenfreundlich hält. Mir persönlich ist nichts davon bekannt, ich höre in den letzten Tagen immer nur „Kurden abschieben“, „Kurden sind Verbrecher“ sogar. „Die türkische Regierung hat ganz Recht, wenn sie gegen diese Terroristen vorgeht.“ Wo lebt Herr Seidel-Pielen? In einer linken Nische aus Solidarität und Nestwärme von Gleichdenkenden? Braucht er nie auf die Straße zu gehen, einkaufen, Bus fahren? Da träfe er jedenfalls die von ihm genannte breite demokratische Mehrheit, und die will am liebsten alle KurdInnen abschieben. [...]

Begeistert hat mich ja auch Herrn Seidel-Pielens Vergleich zwischen polizeilichen Maßnahmen gegen die PKK und gegen neonazistische Gruppen, so geht das aber nicht. Die PKK ist eine zu Unrecht verbotene Organisation, faschistische Organisationen sind aber nun mal zu Recht verboten, so einfach ist das, denn als Demokratin muß ich Herrn Öcalan ebenso wie den Bundeskanzler in Kauf nehmen, Faschisten aber muß ich bekämpfen. Kerstin Witt, Berlin

Nach einem inquisitorischen Rundumschlag gegen die kurdenfreundliche Soliszene will Seidel- Pielen zum Schluß ganz friedlich und konstruktiv werden: Nicht mehr vom Völkermord an den Kurden sollen wir reden, sondern es „eine Nummer kleiner“ tun, nämlich uns „für eine kurdisch- deutsch-türkische Versöhnung in diesem Land einsetzen“. Schön gesagt, aber klein gedacht. Denn an dem antiethnisch gedeckten Tisch können vielleicht postnationale Engel ihr durchgeistigtes Mahl einnehmen; verfeindete nationale Gruppen werden derweil an Odins Tafel Gelage halten.

Wer sich anmaßt, von Versöhnung zu sprechen, der muß schon über seinen eigenen ideologischen Horizont blicken, um die Realität zu sehen. Und die ist nun mal, auch wenn es uns nicht paßt, eine ethnokulturelle. In seinem Eifer gegen völkische Nebenklänge im deutsch-kurdischen Freundschaftsverein schlägt Seidel-Pielen den territorialstaatlichen Grundakkord der Bundesrepublik an. Dieser beginnt in dem Moment dissonant zu dröhnen, wo er wegen der Einzigartigkeit von Auschwitz eine rationale Analyse über den Völkermord in der Türkei verbietet. Wie viele andere steht er so sehr im Banne der Anti- Auschwitz-Identität eines großen Teils der deutschen Linken, daß ein anderer Völkermord als der nationalsozialistische ganz einfach wegdefiniert wird. Wer es trotzdem wagt, über ethnokulturelle Politisierung nachzudenken, gilt in diesem Wahrnehmungsmuster automatisch als Rassist. Rechte Verführer und linke Streiter für das Völkerrecht werden in dieselbe Hölle geworfen. [...] Thomas Göthel,

München/Berlin