: Erotische Erinnerungslandschaften
■ Brüderchen fragt Schwesterchen: Stephan Kimmig dramatisiert Hubert Fichtes „Hotel Garni“, ohne den Text gestisch aufzuplustern. In Stuttgart war Uraufführung
„Die hätten mich ausgerottet, wenn Mutter und ich nicht clever gewesen wären“, schreibt Hubert Fichte an einer Stelle von „Hotel Garni“, dem Eröffnungsband seines auf 19 Bände angelegten epischen Großwerks „Geschichte der Empfindlichkeit“. Es ist in Teilen dialogisch geschrieben, spielt in den fünfziger Jahren und liefert das wohl unverblümteste Bild deutscher Nachkriegs- und Sexualitätsgeschichte.
Irma und Jäcki treffen sich in einem Hotel, der Schwule schläft zum erstenmal mit einer Frau. Danach erzählen beide ihre Geschichte. Von den ersten sexuellen Erfahrungen und daß Jäcki als Homosexueller und Halbjude Glück hatte, da er für Nazideutschland lebensunwertes Leben darstellte. Ironie des Schicksals. Seine Landwirtschaftslehre nach dem Krieg machte Jäcki ausgerechnet bei einem hinkenden SS-Obersturmbannführer der Leibstandarte Adolf Hitlers. „Ich habe keine Vorurteile“, sagte er damals.
Als Hubert Fichte 1986 starb, kaufte die Stadt Hamburg seinen Nachlaß, seither erscheint das Opus Magnum des wohl direktesten und ehrlichsten deutschen Erzählers und anthropologischen Globetrotters. In „Hotel Garni“ läßt er sein Leben und das seiner Lebengefährtin, der Fotografin Eleonore Mau, Revue passieren. Wenn man liest, kommt man nicht mehr los.
Wie aber kann so etwas inszeniert werden? Stephan Kimmig, der lange in der freien Szene Hollands arbeitete, sich mit Joyce- Adaptionen einen Namen machte (er dramatisierte den legendären Molly-Bloom-Monolog aus dem „Ulysses“) und in den letzten beiden Spielzeiten zu einem der bemerkenswertesten unter den jungen Regisseuren entwickelte, schafft es mit einem einfachen und wirkungsvollen Trick. Er spekuliert nicht darauf, die erotischen Erinnerungslandschaften von Irma und Jäcki gestisch oder mimisch aufzuplustern, sondern vertraut schlicht der Fichteschen Sprache.
Im Fünfzigerjahrebett unter Steppdecken Gabriele Hintermaier und Dietmar Nieder, in deren Gesichtern sich ein Erinnerungspingpong spiegelt. Zuerst wirken sie wie Brüderchen und Schwesterchen, erst allmählich schleichen sich Berührungen ein. Parallel dazu ein Up and Down der erotischen Erzählatmosphären. Sie agiert häufig mit einem leicht amüsierten Gesichtsausdruck, wenn er etwas zu genau wissen will. Wenn er dann zuhört, scheint der ganze Körper zum hörbereiten Organ zu werden. Die Dialektik der erotischen Erzählsituation: Der bohrend fragende Mann ist weit geöffnet, die ironisch, kontrolliert erzählende Frau hat Vergnügen daran, sich preiszugeben. Und umgekehrt.
In einer längeren Sequenz kommt eine zweite Frau dazu. Renate Jett ist eine geheimnisvolle Irma-Variante mit rauchiger Stimme, die sich selbstverständlich auf das Bett setzt und den Kopf wie eine Erinnerungspython wiegt. Das eigentlich Überraschende an diesem Abend allerdings ist, daß Kimmigs Inszenierung nie zum Voyeurismus einlädt, da er die Direktheit, Naivität und sachliche Selbstverständlichkeit von Fichtes autobiographischen und ethnographischen Erkundungen auf die Bühne rettet.
Da sind die Jugenderfahrungen in Paris, in Südfrankreich, in Schweden und in Hamburg. Die Männer unter der Dusche und der Sohn des SS-Obersturmbannführers, mit dem Jäcki im Silo neben der Steckrübenmaschine masturbierte. Der erste Knabe in Irmas Leben und der erste Mann, der es im Auto geradezu herrisch exekutierte. Und immer ist es wie damals, als der heute aufgeklärte Theatergänger Dr. Sommers Sexsprechstunde für Jugendliche in Bravo las. Jürgen Berger
Hubert Fichte: „Hotel Garni“. Regie: Stephan Kimmig. Mit Gabriele Hintermaier, Dietmar Nieder und Renate Jett. Nächste Aufführungen am 2., 12., und 27. 4., Staatstheater Stuttgart
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