Der Heilige Gral der Biologie

Bis zum Jahr 2001 soll der komplette Bauplan des menschlichen Genoms vorliegen  ■ Von Karin Bundschuh

Die wissenschaftliche Welt ist um ein Großereignis reicher: Das „Human Genome Meeting“. Mehr als 1.000 Wissenschaftler waren Ende März nach Heidelberg gereist, um sich zu informieren, wie weit die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts inzwischen gediehen ist. An dieser Aufgabe arbeitet die Human Genome Organization (Hugo), der weltweite Verbund der Genomforscher, bereits seit 1989. Doch ein wissenschaftliches Treffen dieser Größe hatte man bisher noch nicht veranstaltet.

Wer in Heidelberg allerdings neue Ergebnisse erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wahre Neuigkeiten wurden, wenn überhaupt, auf dem Flur oder beim Kaffee ausgetauscht. Dennoch warteten die Repräsentanten von Hugo mit zwei Überraschungen auf: Sie verabschiedeten einen Katalog ethischer Richtlinien, und sie riefen offiziell die Halbzeit des Genomprojektes aus. Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts soll nicht erst wie geplant im Jahr 2005, sondern schon 2001, spätestens 2002, beendet sein. Und dies, obwohl die Forscher bisher erst die Sequenz von einem Prozent der drei Milliarden Bausteine kennen.

Als einer der Wegbereiter zum Erfolg gilt Jean Weissenbach mit seinem Team. Der Direktor des bei Paris gelegenen privaten Forschungsinstituts Généthon hat eine genetische Orientierungskarte mit sogenannten Markersequenzen angefertigt, die man mit einem U-Bahn-Fahrplan vergleichen kann. Weissenbachs Karte zeigt, welche Marker und welche bereits bekannten Gene auf welchen Chromosomen liegen. Aus ihr läßt sich aber, wie beim U-Bahn-Plan, nicht herauslesen, wie weit sie auseinander liegen.

Die Funktion der verschiedenen Bereiche ist jedoch allein durch die Sequenz noch nicht erklärt. Aus diesem Grund hatten nicht wenige Wissenschaftler von Anfang an am Sinn des Human Genome Projects (HGP) gezweifelt. Kritisch äußerten sich manche auch deshalb, weil sie den Mißbrauch des neuen Wissens fürchten. Sie beklagen, daß mit der Suche nach dem „Heiligen Gral der Biologie“, wie der Nobelpreisträger Walter Gilbert das Erbgut einmal genannt hat, begonnen wurde, ohne vorher zu überlegen, wie die Ergebnisse einmal genutzt werden könnten. Mit in der Kritik steht das Human Genome Diversity Project (HGDP), das über Unterschiede im Erbgut die Herkunft des Menschen klären will und zudem – gerade bei Naturvölkern – nach genetischen Besonderheiten sucht, die vor Krankheiten schützen.

Mit dem Heidelberger Papier äußert sich Hugo, wenn auch sehr vage, erstmals offiziell zu den Sorgen der Kritiker. Die Richtlinien sollen verhindern, daß Menschen wegen ihrer Gene diskriminiert oder stigmatisiert werden. Die Forscher wollen damit einer Gefährdung der Forschung durch immer mehr Patente und eine weitere Kommerzialisierung ebenso entgegenwirken wie einem Weltbild, das den Menschen ausschließlich auf seine Gene reduziert.

Der Katalog konfrontiert die Genomforscher mit zehn Forderungen: Er verlangt von ihnen – was eigentlich selbstverständlich sein sollte – wissenschaftliche Kompetenz und die Fähigkeit zur Kommunikation. Wobei von ihnen auch gefordert wird, daß sie einem wissenschaftlich ungebildeten Gesprächspartner die Sachverhalte verständlich machen können und daß sie dessen sozialen und kulturellen Hintergrund nicht nur kennen, sondern auch berücksichtigen. Menschen, die an einem Forschungsprojekt teilnehmen, müssen beraten werden. Das erste Gespräch sollte stattfinden, bevor die Testperson beispielsweise einer Blutentnahme zustimmt.

Stimmt ein Mensch einer Genomanalyse zu, dann muß sichergestellt sein, daß er genau über den Eingriff informiert ist. Es genügt nicht, wenn beispielsweise ein Arzt einer Schwangeren eine Fruchtwasseruntersuchung empfiehlt, um zu schauen, ob mit dem Kind alles in Ordnung ist. Er muß sie darauf hinweisen, daß sich mit diesem Diagnoseverfahren eine Krankheit des Kindes erkennen läßt und daß sie entscheiden muß, ob sie eine mögliche Behinderung des Kindes überhaupt erfahren will. Daß es an dieser „informierten Zustimmung“ in der Vergangenheit oft fehlte, zeigen Beispiele, die in Heidelberg diskutiert wurden. In einer in Großbritannien angefertigten Studie konnten 50 Prozent der Frauen kurze Zeit nach der Geburt nicht mehr genau sagen, ob sie das Erbgut ihres Kindes während der Schwangerschaft testen ließen oder nicht. Untersuchungen ohne eine informierte Zustimmung sind nach diesen Richtlinien nur in Ausnahmefällen mit anonymisierten Proben und für epidemiologische Zwecke zulässig.

Die Feststellung, daß nicht nur Einzelpersonen einer genetischen Untersuchung zustimmen können, sondern auch Familien, Stämme oder ganze Völker, sorgte für hitzige Diskussionen. Der Leiter des US-amerikanischen Genomprojektes, Fancis Collins, beispielsweise zeigte sich als „Bürger eines demokratischen Staates sehr beunruhigt, daß hier die Gemeinschaft über dem Individuum stehen kann“. Bartha Knoppers, Kanadierin und Vorsitzende des Ethik- Gremiums, warnte ihre Widersacher dagegen vor Kulturimperialismus. Ihrer Überzeugung nach müssen die Genomforscher Stammesstrukturen akzeptieren, in denen ein Oberhaupt für sein ganzes Volk entscheidet. Diese Diskussion ist gerade für das Human Genome Diversity Project sehr wichtig. Sammeln die Forscher das Erbgut hier doch vor allem bei den noch bestehenden Naturvölkern.