Proteste gegen den totalen Krieg

In Sankt Petersburg demonstrieren Tausende gegen das Blutvergießen in Tschetschenien. Daß der Plan von Boris Jelzin in der Region zum Frieden führt, glauben nur wenige  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Menschen in Rußland warteten den angekündigten Friedensplan von Präsident Boris Jelzin gar nicht erst ab: Viertausend demonstrierten am Sonnabend in Sankt Petersburg gegen den Tschetschenienkrieg. Grund sind die letzten militärischen Aktionen von russischer Seite, die angeblich „bewaffnete tschetschenische Banden“ ausmerzen sollten, um vor den Friedensverhandlungen reinen Tisch zu schaffen. Das Vorgehen der föderalen Streitkräfte gegen die Zivilbevölkerung in den tschetschenischen Dörfern Sernowodsk und Samaschki hat die Mehrheit der zeitweise abgestumpften russischen Bevölkerung erneut empört. Niemand möchte mit den marodierenden Soldaten gleichgestzt werden, die dort die letzte Habe von den EinwohnerInnen der Todesdörfer abtransportierten. Niemand möchte die Handgranaten geworfen haben, die ratlose Häuflein abwartender Familien trafen – nachdem auch noch deren letztes Vieh in russische Armeelastwagen getrieben wurden. Warum, so fragt die demokratische Öffentlichkeit, hat der Präsident seine Erklärung nicht früher abgegeben, um diese letzte Eskalation von Scheußlichkeiten zu unterbinden? Warum mußte dies im Namen des russischen Volkes geschehen?

Zu der Sankt Petersburger Kundgebung hatte der demokratische Jabloko-Block aufgerufen. Dessen Vorsitzender Grigori Jawlinski bezeichnete sie als Auftakt zu einer zehntägigen Welle von Protesten gegen den Krieg. Jawlinski vertraut darauf, daß sich „ganz Rußland“ an den Aktionen beteiligen wird, wie die Mehrheit der demokratischen Parteien, Menschenrechts- und Jugendorganisationen sowie Gewerkschaften.

„Ich verstehe, daß der Präsident alle militärischen Konfliktherde unterdrücken wollte, bevor er seinen Friedensplan ankündigte“, sagte der Jabloko-Führer. „Dahinter steckt die naive Idee, daß man den gesamten bewaffneten Widerstand niederschlagen und anschließend den Friedensplan präsentieren kann, wonach dann alles gut wird. Ich möchte diese Annahme als grundlos bezeichnen.“ Jawlinski benutzte den Ausdruck „Genozid am tschetschenischen Volk“ und sagte, der Feldzug sei im Begriff, zum „totalen Krieg“ zu werden.

Tatsächlich sieht es ganz so aus, als habe Jelzin seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Einer Reporterin der Moscow Times gelang es letzte Woche, führende tschetschenische Kommandeure zu ihren Plänen zu befragen. Einer von ihnen ist Ali Machajew, alias Doku, der im Juni letzten Jahres mit Schamil Bassajew den Terrorüberfall auf die südrussische Stadt Budjonnowsk leitete und heute den Südwesten des Berg- und Zwergstaates beherrscht. Machajew verkündete, die Rebellen hätten bereits ein eigenes Drehbuch für den russischen Wahlkampf entworfen, das mit den Moskauer Plänen wohl kaum übereinstimme. Es werde ein paar „Kinovorstellungen“ geben, die die ganze Welt vor den Fernsehapparaten versammelten. Als Hauptziele der geplanten Terroraktionen nannte Machajew russische Städte und Garnisonen, von denen aus die föderalen Bomber in sein Land starten. Nicht ausgeschlossen seien auch Anschläge in Moskau und Wolgograd.

Weltweit Aufsehen erregte indessen letzte Woche ein Interview des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew mit einer größeren Gruppe westlicher Korrespondenten, bei dem er seiner Bereitschaft zu Verhandlungen mit den russischen Kommunisten äußerte. „Die Kommunisten von heute gehören nicht mehr zu der Sorte, die Rußland zu fürchten hat“, sagte Dudajew. Das bisherige Verhalten der Kommunisten in der Duma gibt dieser Hoffnung allerdings wenig Nahrung. Sjuganow fordert zwar verbal die Beendigung des Krieges, bei näherer Nachfrage und einschlägigen Abstimmungen votierten er und seine Partei bisher stets gegen einen Rückzug der föderalen Truppen aus Tschetschenien.

Jelzin hat wiederholt festgestellt, daß seine Chancen bei den Präsidentenwahlen wesentlich von seiner Fähigkeit abhängen, den Tschetschenienkonflikt zu beenden. Die russische Regierung gibt vor, in Tschetschenien die Einheit der Russischen Föderation zu verteidigen. Umfragen zeigen, daß dieses Argument der Mehrheit der russischen Bevölkerung unverständlich ist, da sie Tschetschenien als ein fremdes Land empfindet. Ein noch deutlicheres Resultat brachte eine Leserbriefaktion der Komsomolskaja Prawda, die, seit dem 9. Februar Protestvordrucke gegen den Krieg veröffentlicht. 15.050 LeserInnen dieser Zeitung schickten sie bisher der Redaktion zurück. Sie sollen der Administration des Präsidenten übergeben werden. Bei dieser Aktion konnten mehrere Varianten eines möglichen Friedensschlusses angekreuzt oder frei formuliert werden. 66 Prozent der LeserInnen entschlossen sich für die radikalste Formulierung: „Es reicht – wir haben genug vom Krieg, wir kommen auch ohne Tschetschenien aus (das bedeutet unverzüglichen Abzug unserer Streitkräfte und Austritt Tschetscheniens aus der Russischen Föderation).“

Selbst wenn Jelzins Vorschläge mehr Zustimmung bei den eigenen BürgerInnen und bei tschetschenischen Gegnern fänden, bliebe noch die Frage, ob er sie gegenüber dem eigenen Lager durchsetzen kann. Dies bezweifelt der Exvorsitzende des russischen Parlamentes und Tschetschene, Ruslan Chasbulatow. „Jelzin ist nicht fähig, den Krieg zu beenden“, sagte er, „weil seine Position geschwächt ist und nur ein starker Präsident diese Wende herbeiführen könnte. Den einzig richtigen Schritt, die russischen Streitkräfte sofort aus Tschetschenien abzuziehen, wird er letztlich nicht tun können. Selbst wenn ,nur‘ die Truppen des Innenministeriums als Ordnungshüter in Tschetschenien verbleiben, bedeutet dies, daß doch wieder das Blut russischer Soldaten und tschetschenischer ZivilistInnen fließen wird.“