Krieg und Frieden?

■ Jelzin überrascht mit seinem Tschetschenienplan

In 76 Tagen wird in Rußland ein neuer Präsident gewählt, und Boris Jelzin hat nach der jetzigen Lage der Dinge keine Chance, wieder in den Kreml einzuziehen. Gerade diese Aussichtslosigkeit jedoch ist es, die ihn treibt. Mit dem Rücken zur Wand, allein gegen rollende Panzer – da entwickelt der ehemalige Bauarbeiter seine ganz eigenen Fähigkeiten. Der gestrige Tag hat bewiesen, daß mit Boris Jelzin als Machtpolitiker noch zu rechnen ist.

Keine Frage, sein Plan zur Beendigung des Krieges in Tschetschenien enthält zwei Überraschungen: Der russische Präsident gesteht Tschetschenien maximale Autonomierechte zu; diese Autonomieregelung könne weitgehender sein als „für irgendeine andere“ Teilrepublik der Russischen Föderation. Und Jelzin ist bereit, indirekt mit dem Rebellenführer Dudajew zu verhandeln. Die Tatsache jedoch, daß man dem russischen Präsidenten solche Vorschläge nicht einmal mehr zugetraut hat, sagt wiederum alles über seine bisherige Tschetschenien-Politik. Mag der Machtpolitiker seinen Instinkt noch nicht verloren haben, den Reformer Boris Jelzin gibt es nicht mehr.

Der russische Präsident ist für einen Vernichtungskrieg verantwortlich, der Zehntausende Menschen das Leben gekostet hat. Er wollte die tschetschenischen Rebellen, wie er sagte, „auslöschen“, und seine Armee hat dafür Dorf für Dorf dem Erdboden gleichgemacht, sie hat wahllos Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet. Darüber hat Jelzin gestern nichts gesagt, er hat nicht die Verantwortung für diesen Krieg übernommen, er hat nicht eingeräumt, daß dieser Krieg ein Fehler, geschweige, daß er ein Verbrechen ist.

Wieviel Zynismus er besitzt, beweist seine Ankündigung, die russischen Streitkräfte würden sich schrittweise „aus den ruhigen Regionen Tschetscheniens“ zurückziehen. Wie wenig wirklichen Verhandlungswillen er hat, zeigt Jelzin, indem er sein Verhandlungsangebot an Dudajew mit der Forderung verbindet, den „Krieg gegen die Terroristen“ weiterzuführen. Im Klartext heißt das: Krieg gegen den, mit dem er angeblich verhandeln will.

Der russische Präsident mag den Krieg vielleicht wirklich beenden wollen. Aber er versteht nicht, warum er dafür der falsche Mann ist. Boris Jelzin steckt in der Sackgasse. Aus der wird er kaum herausfinden. Jens König