Rätsel, Räson und Rührung

■ Schauspielhaus: Anselm Webers Inszenierung von Schillers „Don Carlos“ hatte Premiere

210 Jahre nach der Uraufführung in Hamburg kehrt Don Carlos zum wiederholten Male in die Stadt zurück. Und nach so langer Zeit fangen die alten Kostüme wieder an zu passen, kann die Darstellung vergangener Denkungsart einen jungen Regisseur als Aufgabe reizen. Anselm Weber, der in Hamburg die Ära des aktuellen Intendanten Frank Baumbauer mit einer fabelhaften Rainald-Goetz-Interpretation einläutete, bevor er mit dem Doppelspiel Nathan der Weise/Der Jude von Malta zwischen den Baum der Tradition und die Borke der Zeit geriet, schätzte es vielleicht ganz richtig ein, daß dieser Stoff zu monumental ist, um damit auch noch die Zeitspirale in die Gegenwart hinaufzusteigen. Also beschränkte er sich darauf, die Menschen ernst zu nehmen und ihre Geschichte so weit auszuleuchten, wie die Fähigkeit der Schauspieler es zuläßt.

Dadurch gerät natürlich jede Figur weiter in das scharfe Licht der Aufmerksamkeit, als es das traditionelle Verständnis von Haupt- und Nebenrolle erwarten läßt. Die Verantwortung lastet also auf dem Ensemble und Ausfälle einzelner Schauspieler können das ganze Netz der Spannung zum Reißen bringen.

Doch bis zur Pause geht erst einmal alles gut. Den ausgestellten Jugendwahnsinn Sylvester Groths, der für den erkrankten Martin Lindow als Don Carlos eingesprungen war, kann man mögen oder hassen, je nachdem, wie man zu Menschen steht, denen Kurzschlußgefühle die Vernunftssicherungen durchbrennen. Aber im Vater-Sohn-Verhältnis ist diese Spielart überaus klug gewählt. Peter Roggisch als beherrschter Patriarch Philipp II., der sich in seinem System nur dann fehlerfrei bewegen kann, wenn er sein Herz begraben läßt, und der prompt, als er dem drohenden Rätsel mit Edelmut zu begegnen sucht, über die Tragödie zurück in die Funktionstüchtigkeit getrieben wird, gibt den abstoßenden Kräften der Generationen vollste Plausibilität.

Die Dynamik unerwiderter Liebe, die dem Karussel des Stückes solange Tempo gibt, bis alle vom Schicksalsrad heruntergestürzt sind, findet in Annelore Sarbach als liebesenttäuscht auf Rache sinnende Prinzessin von Eboli eine jede Übertreibung wie Verflachung meidende Darstellung. Und auch die systematisch operierende Entseeltheit des Herzogs von Alba, dem eigentlichen Widerpart zu Don Carlos Idealismus der Herzensentscheidungen, ist bei Jochen Tovote in sachlicher, deswegen perfekter Arbeit. In dieser Phase, wo die Geschichte um Politik, Liebe, Macht und Vision sich entfaltet, gelingt es Anselm Weber, die ironische Distanz zu den entfernten Etiketten und Entscheidungen zu wahren, ohne den Ernst eitel zu verwerfen.

Doch die sich andeutenden Schwächen des ersten Teils verlagern sich zum Absturz des zweiten. Denn weder Catrin Striebeck als von Vater und Sohn beanspruchte Königin Elisabeth noch Stephan Bissmeier als der Fädenspinner Marquis von Posa erreichen die mehrschichtige Akkuratesse, die ihre Rollen verlangen. Das wächst sich aus oben genannten Gründen zur sachten Katastrophe aus, weil zumindest Posa die zunehmend zentrale Gestalt dieses Dramas wird. Doch statt die konkurrierenden Entwürfe persönlicher Freundschaft zu Carlos und politischer Ränke ohne Einweihung des Freundes in der gebotenen Zerrissenheit zu spielen, nuschelt sich Bissmeier in politische Rührung und emotionalen Quark hinein, was irgendwann ununterscheidbar wird. Man mag im großen Frei-heitsdialog mit König Roggisch noch an eine absichtlich ängstliche Schwammigkeit denken, die angesichts des Gesagten – „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ – eine zumutbare Interpretation wäre. Doch bleibt auch weiterhin alles Handeln des politischen Humanisten fahrig und gefühlsduselig. So entweicht die Luft und läßt dem guten Anfang einen zertretenen Schluß.

Funktionstüchtig und klug arbeitet die Bühne von Raimund Bauer. Die Flut der Auf- und Abtritte fängt er in einem System aus Treppen und sich verengenden Teilbühnen geschickt auf, so daß das Auge nie ermüdet. Und auch die Musik von Franz Wittenbrink, ergreifend gesungen von Anne Weber, zählt zu den wahren Genüssen. Und da das Grundkonzept überzeugt, kann die Aufführung auch noch wachsen. Vorausgesetzt, Herr Weber entlockt Herrn Bissmeier die notwendige Kontur. Till Briegleb