Gewalt gegen Mädchen

In Hannover sollen Mädchen von ihren Cliquenfreunden seit langem an Freier „verkauft“ worden sein, auch unter Gewaltanwendung. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft laufen  ■ Von Jürgen Voges

Der Fall des sexuellen Mißbrauchs paßte in ein gängiges Bild, und das Echo in der Öffentlichkeit war entsprechend: Als Hauptbeschuldigter ein Handwerker, wegen Kindesmißbrauch vorbestraft, der in der hannoverschen Hochhaussiedlung Mühlenberg an Mädchen zunächst Hundert-Mark- Scheine verschenkt haben soll. In einer eigens angemieteten und ausgebauten Dachwohnung in dem Arme-Leute-Gebiet soll der 44jährige die jungen Opfer vergewaltigt haben.

Insgesamt zwanzig sollen seine Opfer gewesen sein, so war zu lesen. Die Zeitungen sprachen auch davon, daß sie gefilmt und an finanzkräftige Kunden verkauft worden seien. Die hannoversche Staatsanwaltschaft ist allerdings über dieses Medienecho „alles andere als glücklich“, und im niedersächsischen Frauenministerium hieß es gestern: „Die skandalisierende Berichterstattung läßt einfach in den Hintergrund treten, daß der sexuelle Mißbrauch und andere Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung überall an der Tagesordnung sind.“

Vor allem, so betonte die Sprecherin des Frauenministerium, sei sexueller Mißbrauch kein Unterschichtsthema. In dem umfangreichen Ermittlungsverfahren, das die Staatswaltschaft seit Mai 1995 führt, stehen inzwischen 12 Männer unter Verdacht, seit mehreren Jahren wiederholt Mädchen unter Gewaltanwendung sexuell mißbraucht zu haben. Vier der Beschuldigten befinden sich seit Ende vergangener Woche in Untersuchungshaft. „Bisher haben wir zwei Opfer ermittelt, wir fürchten aber, daß es am Ende acht oder mehr werden können,“ sagt Thomas Klinge, der zuständige Staatsanwalt. Ob sie von dem 44jährigen Hauptbeschuldigten zur Prostitution gezwungen worden seien, stehe noch nicht fest. Auch Drogen seien keineswegs im Spiel, korrigiert der Staatsanwalt die übereifrigen Medien.

Nicht ins Bild paßt auch das Alter der meisten Täter und Opfer: Bis auf den 44jährigen sind die elf weiteren Beschuldigten allesamt Jugendliche und Heranwachsende im Alter zwischen 16 und 20 Jahren.

Das jüngste Opfer, das sich schließlich nach einem mehrjährigen Martyrium ihrer Lehrerin anvertraute und so die Ermittlungen ins Rollen brachte, ist heute 15 Jahre alt. Sie weigerte sich schließlich, sich weiter von dem 44jährigen, gegen Zahlung an ihre Clique, vergewaltigen zu lassen. Danach war sie eine Zeitlang tagtäglich Opfer ihrer brutalen Altersgenossen, wurde immer wieder, angeblich, weil sie sich nicht prostituieren wollte, von Jugendlichen aus ihrer Clique vergewaltigt.

„Es besteht der dringende Tatverdacht, daß sich ein Großteil der Straftaten innerhalb der Jugendclique abgespielt hat“, sagt denn Staatsanwalt Klinge. Größtenteil von klein auf auf würden sich Täter und Opfer kennen. Der 44jährige Handwerker wurde bisher beschuldigt, zwei Mädchen vergewaltigt oder sexuell genötigt zu haben. Nach den bisherigen Ermittlungsstand hätten die beschuldigten Jugendlichen für diese Straftaten offenbar Geld von dem Handwerker erhalten.

„Natürlich nützt es den Mädchen wenig, daß auch Altergenossen die Täter waren“, kommentiert die Sprecherin des Frauenministerium diesen Ermittlungstand und verlangt, „eine sachgerechte Strafverfolgung mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten“. Für sie tritt in diesem Fall von sexuellen Mißbrauch das „Gewaltverhältnis zwischen den Geschlechtern“ zutage.

Nicht nur in Niedersachsen sei im vergangenen Jahr die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Sebstbestimmung stark angestiegen, gegenüber dem Vorjahr um sieben Prozent. Die Täter kommen aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten. Daß dieser jüngste spektakuläre Fall von sexuellem Mißbrauch in einer Vorstadt spielt, in dem ärmere Leute und Einwaderer wohnen, ist für sie reiner Zufall. Im Mädchenhaus, das Opfern von Mißbrauch jederzeit offensteht, suchen keineswegs in erster Linie Mädchen aus sozial schwachen Familien Hilfe.