Ein Gemisch aus Cliquen und halbfeudalen Clans

■ Im Kaukasus-Krieg bekämpfen sich nicht nur Russen und Tschetschenen

Wenige Stunden nach Jelzins Fernsehansprache sagte der Oberkommandant der Föderationstruppen in Tschetschenien, Wjatscheslaw Tichomirow, eine vollständige Einstellung der Kriegshandlungen sei unmöglich. Immerhin die Erkenntnis eines wichtigen Entscheidungsträgers vor Ort, der tagein, tagaus mit dem Chaos in Tschetschenien konfrontiert ist. Wenig später mußte sich Tichomirow korrigieren. Er sagte, das Feuer werde nur gegen Provokateure eröffnet.

Die Verwirrung der Militärs ist verständlich. Was die innertschetschenische Lage angeht, verschafft Jelzins „Friedensplan“ kaum Klarheit. Denn es gibt in Tschetschenien nicht nur zwei Konfliktparteien, es kämpfen nicht „die Russen“ gegen „die Tschetschenen“. Moskau versucht, seine Interessen einerseits auf militärischem Wege, andererseits mit Hilfe seiner unter den Tschetschenen eingesetzten Agenten durchzusetzen. Und auf Seiten der Tschetschenen gibt es außer Dschochar Dudajew andere, zum Teil untereinander zerstrittene Machtzentren.

Drei Jahre Präsidentschaft Dudajews und 500 Tage Krieg haben die modernen Machtstrukturen in der Tschetschenischen Republik fast vollkommen weggewischt. An deren Stelle sind korrupte Cliquen aus Leuten Dudajews und halbfeudale örtliche Clans getreten. Diese sind in der Kaukasus-Republik zu einem Machtfaktor geworden. Auf sie stützt sich die tschetschenische Opposition gegen Dudajew. Schon vor der Invasion hatten die Clanchefs Umar Awturchanow und Salambak Chadschiew das Regime Dudajews zu stürzen versucht. Trotz der militärischen Unterstützung aus Moskau scheiterten diese Bemühungen. Dennoch sind die Clans im Nordosten Tschetscheniens sehr einflußreich.

Moskaus jüngster Vasall heißt Doku Zawgajew. Der ehemalige Parteichef der Republik Tschetscheno-Inguschetien wurde vom Kreml nach Grosny entsandt und hat sich dort im letzten Dezember zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Zawgajew wird von den Überresten der Sowjetnomenklatura unterstützt. Ihm untersteht zwar die Polizei, doch seine Macht ist im wesentlichen auf die Hauptstadt Grosny beschränkt.

Die Aufteilung der Einflußzonen ist kaum überschaubar. Grundsätzlich kontrolliert Dudajew die Ortschaften im südlichen Bergland und an der Grenze mit Dagestan; noch an diesem Wochenende belagerten die Truppen der Föderation die Ortschaften Wedeno und Perwomajskoje. In Grosny und im Norden des Landes ist Moskaus Einfluß am stärksten. Solange es keine einheitliche Verwaltung gibt, bleibt die Macht in Tschetschenien atomisiert. In den Ortschaften haben die Clanältesten das Sagen. Gegen ihren Willen können die Kämpfer Dudajews die Dörfer nicht besetzen.

Bei seinen Bemühungen um ein Friedensabkommen hat der Handlanger Moskaus, Zawgajew, deswegen nicht nur einen Gesprächspartner. Seine Regierung muß mit jedem Dorf einzeln verhandeln. Bereits 80 solcher Friedensverträge sollen bis jetzt unterzeichnet sein, mit Dutzenden von Ortschaften wird noch verhandelt.

Bei diesen Verhandlungen hat Zawgajew nur ein Argument: die Panzer und Bomber der Föderation. Wer nicht unterzeichnet, wird zerbombt. So wurde neulich Samaschki zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit dem Erdboden gleichgemacht. Je brutaler jedoch das Vorgehen der Moskauer Truppen gegen Zivilisten, desto größer dürfte die Autorität von Präsident Dudajew werden.

Jelzins Plan sieht vor, daß Zawgajew seine Bemühungen um Friedensabkommen fortsetzen wird. Falls die Vergeltungsschläge gegen widerständische Dörfer aber tatsächlich eingestellt werden, wird sich Doku Zawgajew wohl nach Moskau zurückziehen müssen, wo er immer noch ein Arbeitszimmer im Hause der Regierung hat. Und in diesem Fall ist es nicht ausgeschlossen, daß die Ältestenräte wieder Freischärler in ihre Dörfer lassen.

Der Vorschlag Jelzins, „ein friedliches politisches Forum aus Vertretern der tschetschenischen Bevölkerung“ einzuberufen, nimmt der Regierung Zawgajews die letzte Legitimation. Die Kräftekonstellation in Tschetschenien wird dadurch noch undurchschaubarer. Und ohne Dudajew wird ein solches Forum lediglich zu einer weiteren Marionette Moskaus. Mit Dudajew allerdings will der russische Präsident nur über Vermittler verhandeln. Von einem Runden Tisch kann also keine Rede sein. Der Plan des russischen Präsidenten, in einem von Krieg zerrissenenen Land faire und demokratische Wahlen abzuhalten, ist schlichtweg unrealistisch. Ohne direkte und gleichberechtigte Verhandlungen mit Dschochar Dudajew ist kein Frieden vorstellbar. Boris Schumatsky