„Pelé steht über dem Papst“

Ein Tag auf den Spuren von Sportminister Edson Arantes do Nascimento, dem „König“ Brasiliens, der es zu seiner Mission gemacht hat, die Jugend des Landes durch sportliche Betätigung zu erziehen  ■ Aus Recife Astrid Prange

Zum Aussteigen kommt er nicht. Als Brasiliens Sportminister Edson Arantes do Nascimento die Tür seines Dienstwagens öffnet, wirft sich ein Junge in seinen Schoß: „Pelé!“ Pelé erschrickt – und lacht. Verzweifelt versuchen eifrige Sicherheitsbeamte, dem berühmtesten Mitglied der brasilianischen Regierung einen Weg durch die Menge auf dem Sportplatz der Universität von Pernambuco zu bahnen. Doch der „Rei“ (König), wie er in Brasilien genannt wird, zeigt keine Berührungsängste mit dem Volk und umarmt den kleinen Verehrer. Danach küßt er noch ein Neugeborenes, das eine stolze Mutter ihm im Gedränge entgegenhält. Wer weiß, ob die Berührung des größten Fußballers in diesem Jahrhundert nicht Wunder bewirkt? Pelé läßt es auf einen Versuch ankommen. „Eltern todkranker oder schwerbehinderter Kinder rufen bei mir an und bitten mich, ihnen die Hände aufzulegen“, erzählt er. „Manchmal kommt es mir vor, als ob ich Gott sehr nahestehe.“

Daß Edson Arantes do Nascimento sich schon zu Lebzeiten in den Mythos Pelé verwandelt hat, steht für einen seiner engsten Mitarbeiter außer Frage. „Pelé steht über dem Papst“, ist Asfilofio de Oliveira Filho überzeugt. Für den Leiter des Sportinstituts „Indesp“, das für die Ausführung der Projekte des Sportministeriums verantwortlich ist, hat Pelé in seinem Leben einen außerordentlichen Grad an Perfektion erreicht. „Pelé war nicht nur als Sportler beispielhaft, er ist es auch als Politiker. Er durchlebt hier auf der Erde seine letzte Reinkarnation“, ist er sicher.

Edson Arantes do Nascimento ist Minister, Musiker, Schauspieler und Fußballstar zugleich. Doch als Pelé schwebt er über all diesen konventionellen Berufskategorien. Er wischt widerstreitende Ideologien beiseite und überwindet Brasiliens soziale Barrieren. Seine Anwesenheit reicht aus, um eingefleischte politische Gegner zur Zusammenarbeit zu mobilisieren. „Er begeistert sowohl Einjährige als auch 80jährige“, beschreibt Asfilofio de Oliveira das phänomenale Charisma des bekanntesten Brasilianers. „Pelé besitzt keine Hautfarbe“, sagt der Marketingfachmann über den ersten schwarzen Minister in Brasilien. „Pelé ist Pelé. Aber wo er auftritt, haben alle Schwarzen Zutritt.“ Pelé war auch der erste schwarze Brasilianer, der einen Mercedes fuhr. „Daß die Leute ihn damals in den 60er Jahren für den Chauffeur hielten, störte ihn nicht“, versichert sein persönlicher Referent Agemar Sanctos.

Im Alltag verlangt der Ministerposten vor allem Geduld. Eigentlich sollte Pelé bei seinem Besuch in Recife den Grundstein für ein neues Sportzentrum in dem Armenviertel Rio Doce legen. Doch bevor er zur Sache kommt, signiert er stapelweise Mützen und Hemden. Rund 30.000 Menschen scharen sich um die wackelige Tribüne auf einem staubigen Sportplatz. Aus allen Himmelsrichtungen fliegen Kleidungsstücke und Bälle auf den Minister zu. „Wenn ich doch nur einmal meine Hand in seine Tasche stecken könnte“, kichert eine zahnlose Frau. Das Riesenrad im Vergnügungspark nebenan steht still, und Schaulustige recken sich aus den Gondeln. Das Gerüst der Bühne schwankt gefährlich. Pelé setzt seinen Schriftzug auf Trikots und greift dann zum Mikrofon: „Schon bei meinem tausendsten Tor [ein Elfmeter am 19. November 1969 im Maracaná-Stadion in Rio; Anmerk. d. Red.] habe ich gesagt, daß Brasilien seine Kinder vergessen hat“, kritisiert er die Politiker. „Wir werden das ändern! Erst wenn jedes Kind in Brasilien Sport treibt, schafft das Land den Absprung.“

Ein Minister, der seine Kollegen verunglimpft? Pelé darf das. „Es ist nicht einfach, nach Jahren schlampiger Verwaltung und politischer Skandale dieses Land auf Vordermann zu bringen, aber ihr müßt daran glauben“, beschwört er Tausende von Schulkindern, die auf dem nächsten Sportgelände auf ihn warten. Der dunkle Mercedes des Sportministers parkt unmittelbar neben einem Holzpodest, der provisorischen Tribüne für seine kurze Ansprache. Fernsehkameras blockieren den Blick auf den Mythos in Fleisch und Blut, verbergen sein schelmisches, ansteckendes Lachen. Junge Akrobaten, die die brasilianische Kampfsportart Capoeira vorführen, schwitzen vergeblich nach Aufmerksamkeit. Nur die Musikkapelle übertönt mit einem strammen Marsch für einen Augenblick die lautstarke Begeisterung für Pelé.

Der „Rei“ dankt Gott demütig für die Gelegenheit eines Besuchs in Recife, seiner zweiten Heimat. „Immer wenn ich in Recife gespielt habe, hat das Publikum meine Manndecker ausgepfiffen. So etwas passiert nur in Recife“, schmeichelt er dem Publikum. Und dann spricht er von seiner Mission, Sport in allen Sparten zu fördern. Ist Sport die Lösung für Brasiliens krasse soziale Ungerechtigkeit? Wirkt der Kampf um den Ball oder die Zugehörigkeit zu einer Mannschaft tatsächlich einkommensverteilend? Brasiliens berühmtester Bürger verkörpert diese Hoffnung wie kein anderer.

Ein paar Stunden später wird Pelé in einer feierlichen Zeremonie vom Gemeinderat zum Ehrenbürger der Stadt Recife ernannt. Mit Tränen in den Augen verweist er auf seine zweite Frau Assiria Seixas Lemos, die aus Recife stammt und die er hier vor zwei Jahren zum Altar führte. In Recife bringt die 35jährige Psychologin, die Pelé während seiner Zeit bei Cosmos New York kennenlernte, mühelos das dichtgedrängte Besuchsprogramm durcheinander. Unverhofft bittet der Minister seinen Chauffeur, einen kleinen Abstecher in seine Wohnung im vornehmen Stadtteil Piedade zu machen, um seine Frau zum gemeinsamen Mittagessen mit Gouverneur Arraes im Regierungspalast abzuholen. Nicht nur für Assiria, auch für die Sicherheitsbeamten entpuppt sich Pelés Ausscheren aus der Fahrzeugkolonne als Überraschung. Eine verzweifelte Verfolgungsjagd beginnt. Pelé ist plötzlich verschwunden! Ein paar Kilometer weiter wartet er seelenruhig vor einer Ampel im Stau und beglückt einen völlig verdutzten Erdnußverkäufer mit seinem Autogramm. Als er endlich in die Garage des luxuriösen Gebäudes Edificio Morada Beira Mar hineinprescht, befindet sich seine Gattin schon auf dem Weg zum Gouverneurspalast. Zum Mittagessen mit Miguel Arraes, im Nordosten Brasiliens eine mythische Figur, wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen.

Zusammen mit der Königsgattin harren im Hinterzimmer des Speisesaals die Enkelkinder des Landesvaters auf ein Autogramm. Pelé läßt auf sich warten. Er muß erst noch seine Verachtung für brasilianische Politiker loswerden. „Eine parlamentarische Untersuchungskommission, die den Zusammenbruch von Banco Económico und Banco Nacional [zwei große brasilianische Privatbanken; Anmerk. d. Red.] aufklärt, nützt überhaupt nichts“, prophezeit er im Garten des Regierungspalastes. Die Abgeordneten würden eventuelle Betrügereien vertuschen, weil sie bei ihren Wahlkampagnen auf das Geld der Banken angewiesen seien. Schon im November vergangenen Jahres hatte Pelé Brasiliens weiße Politikerkaste der Korruption bezichtigt. „Die mangelnde Vertretung von schwarzen Abgeordneten im Kongreß hat durchaus eine positive Seite“, erklärte Pelé damals anläßlich des 300. Todestages von Zumbi dos Palamares, einem Anführer entlaufener Sklaven. „Immerhin gelten Schwarze nicht als korrupt.“

Imagepflegerin Monica Gill sieht Arbeit auf sich zukommen. „Pelé denkt nicht an die Folgen seiner Äußerungen. Er ist kein Politiker. Pelé will etwas für Brasiliens Kinder tun, und sonst nichts“, beschreibt sie die Mission ihres Chefs. Doch der angeblich so unpolitische Sportminister bringt Brasiliens traditionelle Politik ins Wanken. Nicht nur, weil er sich mit Oppositionspolitiker Miguel Arraes an einen Tisch setzt. Arraes, Mitglied der sozialistischen Partei PSB, hat Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso die Koalition mit verschiedenen Rechtsparteien bis heute nicht verziehen.

Pelé bringt den Landesvater von Pernambuco sogar dazu, ein Projekt seines verhaßten Vorgängers Joaquim Nambuco wieder zu beleben. Der Bund renoviert die heruntergekommene Sportanlage „Arco Verde“ für 500.000 Dollar. Die monatlichen Unterhaltskosten in Höhe von 140.000 Dollar gehen zu Lasten der Landesregierung. „Pelé macht gar nichts“, erklärt der Indesp-Vorsitzende Asfilofio de Oliveira. „Er kommt einfach hin und unterschreibt.“

Agemar Sanctos gefällt die Vermischung von Mythos und Minister. „Pelé zu widersprechen, wirkt sich bei den nächsten Wahlen fatal aus“, meint der persönliche Referent schmunzelnd. Gesetzesentwürfe aus dem Sportministerium, zum Beispiel die Unabhängigkeit professioneller Fußballspieler nach drei Jahren Einsatz für ihren Klub, können der Zustimmung des Kongresses sicher sein. „An der Seite des Königs wollen alle erscheinen“, lautet die Erfahrung von Agemar Sanctos. Mit einer Ausnahme: Brasiliens Präsident Cardoso. Sanctos: „Cardoso meidet öffentliche Auftritte mit Pelé. Er fühlt sich von seiner Anwesenheit erdrückt.“

Der Posten als Sportminister ist politisch auf den ersten Blick alles andere als interessant. Das Gehalt von 8.000 Dollar reicht zwar für Pelés Mietwohnung in der Hauptstadt Brasilia, nicht jedoch für die vielfältigen Auslandsreisen. Seine Spesen begleicht Pelé aus eigener Tasche, für die Flugkosten kommt häufig seine Firma „Pelé Sports & Marketing“ auf, für die er häufiger ins Ausland reist als für die Regierung. „Pelé ist für die Regierung ausgesprochen billig“, lobt Agemar Sanctos den Musterminister. Für billige Werbung ist der „König“ allerdings nicht zu haben. „Pelé hat ein Gespür für Leute mit zweideutigen Intentionen“, versichert Referent Sanctos.

Die regelmäßigen Rundumschläge gegen Brasiliens korrupte Politiker schmälern die Bewunderung für den Sportminister nicht. Die Volksvertreter stehen in seinem Kabinett Schlange. „Pelé symbolisiert den Sieg der brasilianischen Demokratie“, schwärmt der Abgeordnete Antonio Aureliano. „Trotz seiner Hautfarbe und der Armut seiner Familie hat er den Aufstieg geschafft.“ Senator Ramez Tebet preist Pelés menschliche und sportliche Leistungen. „Pelé ist ein Athlet mit beispielhafter Lebensführung“, doziert der Politiker aus dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Strahlend verläßt er nach einer halben Stunde Politplausch mit einem Autogramm das Ministerkabinett. Für einen Moment wischt er das Bild vom häßlichen Brasilien, wo Straßenkinder von Polizisten und Indianer von Goldgräbern gejagt werden, beiseite. Seine Brust quillt über vor Nationalstolz: „ER verkörpert Brasilien. Nur dieses Land ist fähig, eine Figur wie Pelé hervorzubringen.“