Wie man den Bildertourismus in den Griff bekommt

Es gibt keine Menschenschlangen. Der kleine Platz vor dem Mauritshuis in Den Haag ist nahezu verlassen. Allein zwei Frauen, die sich als Kutscherinnen kostümiert haben, warten mit einem Einspänner auf nostalgisch gestimmte Kundschaft. Wenn man am Mauritshuis, einem kompakten Palais von hanseatischer Strenge, hinaufsieht, erkennt man im Hochparterre hinter beschlagenen Scheiben ein paar Köpfe in Bewegung. Es ist still hier, sehr still. – Der Eingang des Museums befindet sich an der Seite, wo die Gasse entlangführt. Aber der Eingang ist weiß umbaut, und die Umbauung führt am Haus vorbei hinter das Haus, und hinter dem Haus steht ein gigantisches weißes Zelt. Das ist umso erstaunlicher, als das Mauritshuis ja in die Gracht gebaut ist: Das weiße Zelt ist ein Floß, das bis ans andere Ende des Wassers reicht, wo die Innenstadt ohnehin endet und jetzt die Busse heranfahren. Hier ist der Eingang zur bestbesuchten Ausstellung Europas: „Johannes Vermeer“. Die Kasse ist mit dem Hinweis versehen, daß morgens um neun ein begrenztes Kontingent von Karten zur Verfügung steht und ansonsten geschlossen.

Es muß am Vormittag hohen Besuch gegeben haben, gerade werden im Kassenraum mehrere Meter Blumenkästen abgeräumt. In das lange weiße Zelt kommt, wer eine Tageskarte oder einen Presseausweis herzeigen kann. Dann ist man drin – aber nicht in der Ausstellung, sondern im „Vermeer Paviljoen“. Das Zelt, oder eben der Pavillion, hat zum Wasser hin die großen holländischen Fenster. Große rote Schilder mit präziser weißer Schrift, von der Decke abgehängt, geben einen groben Überblick: Buchladen, Caféteria, Garderobe.

Die Caféteria bietet keine Hanfprodukte an, aber ist ansonsten prächtig: kaltes und warmes Essen, und zwischen den symmetrisch gebauten Selbstbedienungsstraßen steht ein Koch mit Mütze. Auf den Tabletts liegt die Speisekarte des „Vermeer Paviljoen“ aus, mit kurzer Einführung in „Het leven van Vermeer“ auf Holländisch, Französisch und Englisch. Der Mann, so steht da, war ein Gastwirt und Kunsthändler und starb vor 320 Jahren, zehn Tage vor Weihnachten.

Gleich vier Kassen hat man aufgestellt, um beim Verkauf der Kataloge (zur Auswahl: Hl., Dt., Frz., Engl.) dem Andrang standzuhalten. Man muß nicht lange warten. Die Toiletten werden gereinigt, ohne daß jemand die Hand aufhält. Und das leergefressene Geschirr verschwindet von den quadratischen Resopaltischen mit Holzmaserimitat in Sekunden. Damit der Luxus dieser Leistung niemandem entgeht, kommt aus diagonal im Raum schwebenden Stablautsprechern Musik, die man als unvermeidliche Zugabe der Fluggesellschaften vor Abflug und Landung kennt; und genau das ist der Pavillion: ein Terminal, eine Lounge.

Die Flüge gehen immer zur vollen Stunde. Brav reihen sich die Gruppen auf und werden als Zwölferpacks eingelassen. In den langen weißen Plastikgang hat man Vermeer-Reproduktionen in silbrigen Kaufhausrahmen gehängt – ein kurioser Effekt von Jahrmarkt. Wenn man schließlich das Mauritshuis betritt, tut man das durch einen Kellerseiteneingang von der Wasserseite aus. Im Keller gibt es: Toiletten, ein Video, Schließfächer und einen Raum mit Tafeln über die Maltechnik Vermeers. Im Hochparterre beginnt die kleine Ausstellung mit gut zwanzig Gemälden. Wer erst drin ist, darf – entgegen der Gerüchte – so lange bleiben, wie sie oder er möchte.

Es ist die einfachste Ausstellung dieser Dimension, die ich je gesehen habe. Die Räume sind gerade so groß, daß man sie mit einem (jetzt vermauerten) Kamin gut heizen konnte. Die Wände sind mit rauh gewobenem grünem Stoff verkleidet. Die Bilder hängen etwas über Kopfhöhe leicht geneigt von den Wänden. Es gibt keine Absperrungen irgendwelcher Art, keine Markierungen am Boden, keine elektronischen Systeme, die auf Körperwärme ansprechen. Nun gut: Die Bilder sind, eines ausgenommen, verglast. Aber sie sind – meist mit einem einzigen Spot – so beleuchtet, daß eine Annäherung ohne Spiegelung ohne weiteres möglich ist, ein großer Vorteil kleiner Formate. Die fünf Räume der Ausstellung sind in das restliche Museum fließend integriert. In einem sechsten Raum grinst der alte Rembrandt mit Federmütze aus einer Nische, und in einem siebten gibt es nur einen Spiegel, in dem man sich selbst betrachten kann. Von dort kann man auch sehen, daß die Klimaanlage des Vermeer-Pavillions von zwei schlichten Containern aus betrieben wird, die auf einem roten Frachtkahn gelagert sind.

Wer die Ausstellung verläßt, muß zurück durch den Pavillion, full circle. Die Rückkehr ins Terminal allerdings geschieht mit Dankbarkeit: Die Holländer haben alles getan, um ihre Besucher nicht zu strapazieren, die Bilder zu schonen und vor allem – die Begegnung mit der Kunst Vermeers wirklich möglich zu machen. Die Museumsleute haben vom Maler gelernt, daß der Raum des Betrachters ein hohes Gut ist, das nicht vom Himmel fällt. Es entspringt einem klugen Gedanken. Ulf Erdmann Ziegler