Elitekindergarten für Störanfällige

Der Hertie-Eigner Hans-Georg Karg hat in Hannover den ersten bundesdeutschen Kindergarten speziell für „Hochbegabte“ gegründet – wegen der „gleichen Behandlung Ungleicher“  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

Lichtdurchflutete, mit hellem Holz möblierte Räume verbergen sich hinter den grüngerahmten Fenstern des Neubaus. Die sechzig kleinen Kinder, die sich hier mit Puppenhäusern vergnügen und aus Holzpuzzlen Figuren legen, haben gleich ein Dutzend Räume zur Verfügung. Es ist eben ein besonderer Kindergarten, den das „Christliche Jugenddorfwerk“ in der Nähe des hannoverschen Messegeländes betreibt: es ist Deutschlands einzige Kindertagesstätte für „hochbegabte“ Drei- bis Sechsjährige.

An den Fenstern hängen rote Papiersterne, an den Wänden selbstgemalte Bilder. Die Holzpuzzle, aus denen die Kleinen eigene Formen bilden, heißen hier „spezielle pädagogische Materialien zur Förderung des logischen Denkens“. Doch zum Zitronenkuchen brabbeln die Jungen und Mächen durcheinander wie überall. Die blonde Salia, die gerade fünf geworden ist, möchte Schach spielen. „Die Dame muß auf das Feld, das wie die Dame aussieht“, sagt das Mädchen im roten Pullover. Ein Schachgenie ist Salia nicht. Aber: „Schon mit zehn Monaten konnte sie laufen und hat sehr früh artikuliert gesprochen, von Anfang an richtige Sätze“, sagt ihre Mutter. Außerdem habe Salia auch einen ebenso hochbegabten zehnjährigen Halbbruder. Der sei auch getestet worden.

Für die Tests ist die pädagogische Leiterin des Projektes, Christa Hartmann, zuständig. Bereits seit 14 Jahren widmet sie sich der Förderung hochbegabter Kinder. „Wir wollen hier keineswegs eine künstliche Welt schaffen“, versichert die 45jährige Psychologin. Hochbegabte seien keineswegs die besseren Menschen, sondern vor allem ströranfälliger als andere Kinder. „Hochbegabte langweilen sich oft in Schule oder Kindergarten, werden nicht genug gefördert und dadurch oft verhaltensauffällig“, begründet sie die Notwendigkeit einer speziellen Betreuung cleverer Kleinkinder. Vor solchen negativen Erfahrungen will der Kindergarten seine Schützlinge bewahren.

Nur die Hälfte der Kinder wird nach Intelligenzquotienten ausgewählt, die andere Hälfte sind „normale Kleine“. Keinesfalls getrennt von normalen Altersgenossen sollen die Hochbegabten aufwachsen, meint Frau Hartmann. Sie hält nichts von Eliteförderung. Der Stoff der Grundschule wird deshalb auch nicht vorweggenommen. Zwar werden auch logische Fähigkeiten trainiert und es gibt ersten Englischunterricht, doch viel mehr Wert legt das Pilotprojekt auf soziales Verhalten und Kreativität, wie man sie beim Theaterspielen, bei Tanz oder beim Geschichtenerfinden übt. Nicht mal im Streit, ob denn Begabung im Säuglingsalter oder schon vor der Geburt erlernt oder durch die Gene mitgeben sei, will sich die Psychologin festlegen. Und ein wirkliches kleines Genie wünscht sie „Eltern überhaupt nicht“, denn Spitzenbegabungen hätten immer einen schwierigen Lebensweg vor sich.

Die Wünsche der Eltern scheinen da jedoch in eine andere Richtung zu gehen. Auf zwölf freie Plätze für Hochbegabte hatte der Kindergarten jüngst über 170 Bewerbungen aus dem hannoverschen Stadtgebiet. In vier Probetagen werden die Kleinen getestet, müssen sie zu Hammer, Feile, Säge den richtigen Oberbegriff nennen oder herausfinden, welches weitere von sechs Rechtecken zu einer Reihe von farbigen und gemusterten Symbolen paßt. Durch diesen Intelligenztest erkenne man, daß die Dreijährigen tatsächlich zu jenen zwei bis fünf Prozent Hochgegatten eines jeden Alterjahrganges gehörten, versichert Frau Hartmann. Allerdings weiß die Psychologin sehr wohl, daß sie auch mit den Tests letzlich nur einen Entwicklungsvorsprung mißt: „Natürlich kann dieser Vorsprung auch wieder verloren gehen und sich einer Normalbegabung annähern“.

Die Karg-Stiftung, in derem Vorstand die CDU-Politikerin Hanna-Renate Laurien sitzt, hat allerdings mit den aufgeweckten Dreijährigen durchaus Größeres vor. „Nichts ist für eine Nation und ein Volk insgesamt von größerem Nachteil als die gewollte und auch ungewollte Brache auf dem Feld begabter junger Menschen“, lautet die „Erkenntnis“, die den ehemaligen Hertie-Eigner Hans-Georg Karg zur Gründung einer Hochbegabtenstiftung veranlaßte. Für den um die Elite der Nation besorgten Mäzen ist „nichts ungerechter als die gleiche Behandlung Ungleicher“. 5,4 Millionen Mark hat die komfortable Kindertagesstätte gekostet. Die Kleinen fühlen sich einfach wohl, „kommende Elite“ sagt ihnen nichts. Vom Gebäude abgesehen findet sich „auf Anhieb kein Unterschied zu einem normalen Kindergarten“, meint Psychologin Hartmann und ist „richtig froh, daß die Kinder nicht auffällig sind“.