Wir brauchen Heimplätze -betr.: "Fast eine Familie", taz vom 28.3.1995

Betr.: „Fast eine Familie“, taz vom 28.3.

Sehr geehrte Frau Kuhnhardt (Leiterin des Kinderschutzzentrums Oldenburg, Vertrauensstelle „Benjamin“, d.Red.),

ich beziehe mich auf o.g. Geschichte in der taz. Zwar bin ich weder ein Leserbriefschreiber, noch habe ich grundsätzlich genug Zeit, mich mit journalistischen Publikationen auseinanderzusetzen. Aus reichlich eigener Erfahrung weiß ich auch sehr genau, daß man sich mit seinem Anliegen im gedruckten Produkt schließlich häufig gar nicht oder nur verfremdet wiederfindet. Dessen ungeachtet halte ich es im vorliegenden Fall jedoch einfach für erforderlich, Ihnen eine kollegiale Rückmeldung zu geben. Zunächst: Ich finde es gut, daß Sie Ihre Arbeit in der Öffentlichkeit darstellen, insbesondere da es sich um ein noch recht neues Angebot in Oldenburg handelt. Und dieses Angebot ist sicher wichtig, notwendig und gut.

Nur: Warum haben Sie es für nötig gehalten, Inhalte Ihrer Arbeit über Abgrenzungskriterien zu anderen Angeboten (hier: Krisenplätze in Heimen) zu definieren? Ist Ihnen klar, daß sie damit u.a. Negativbilder über Heimerziehung reproduzieren, die sich sehr hart- näckig über Jahrzehnte in „öffentlicher Meinung“ wiederfinden und gegen die inzwischen schon ganze Generationen von Sozialarbeitern engagiert angekämpft haben? Weil eben diese Bilder so nicht mehr stimmen. Und weil wir Heimplätze auch weiter benötigen. Aber Letzteres ist Ihnen sicher auch bekannt und – wie sagt man – „ein weites Feld“. Deswegen hier nicht weiter. Nur: auch Ihre Abgrenzungskriterien stimmen einfach nicht.

Ich sage:

–Auch Sie nehmen im Bedarfsfall spontan auf – genau das wird beschrieben und gibt einer Kriseneinrichtung Sinn.

–Auch in Heimen mit Krisenplätzen gibt es „ausgebildete Therapeuten in allen Gebieten“. Und natürlich steht die Bewältigung der „akuten Situation“ auch hier an.

–Und natürlich wird auch aus Heimen heraus „ohne den Druck des Elternhauses nach Perspektiven für alle Beteiligten“ gesucht.

–Und: auch Heimerziehung vollzieht sich in Gruppen/Wohn- gruppen.

–Die globale Feststellung „gerade mißhandelte Kinder können dort nicht adäquat aufgefangen werden“ (im Heim eben), bezeugt m.E. Grandiosität, nur: woher wissen Sie das so genau?

Es ist so eben einfach schlichtweg falsch dargestellt. Und die kurzen Beschreibungen aus Ihrem Wohngruppenalltag lassen sich deckungsgleich auf Heimgruppen übertragen. Allerdings kann ich für die Kriseneinrichtung Kinderheim Hermann Hildebrand einen wesentlichen Unterschied beschreiben: „Fast eine Familie“ ist bei uns inhaltlich weder anzutreffen noch angestrebt. Und das nicht etwa aus der „Verlegenheit“ der Heimstrukturen heraus, sondern aus inhaltlichen Gründen mit Blick auf die Problemlagen der Kinder: familiäre und familienähnliche enge Beziehungsmuster sind einfach häufig kontraindiziert. Und dies ist m.E. das eigentlich wichtige und spannende Thema. Darüber wäre ich an einem weiteren Austausch interessiert.

H. Pape, Dipl.Soz.Päd., Heimleiter des Kinderheimes Hermann Hildebrand