Hühnerkacke macht glücklich

■ 9.000 qm Freiraum. Wer so viel Platz beansprucht, ist maßlos, sagen Stadtplaner und Politiker. Auch im fünfzehnten Jahr ist der Kinderbauernhof am Mauerplatz immer noch ein Streitobjekt

Das Maß aller Dinge sind an diesem Morgen ein Paar knallgelbe Gummistiefel, die nicht mehr passen. Grausig, wenn ein Tag mit Tränen beginnt: „Aber als wir auf Augustenhof gewesen sind, waren die noch nicht zu klein“, schluchzt es. Augustenhof! Das liegt länger als ein Jahr zurück. Stadtmenschen machen manchmal Urlaub auf Bauernhöfen, um ihren Kindern zu erklären, daß das Ei nicht aus dem Sechserpack und die Milch nicht aus der Flasche kommt.

Aber wozu brauchen sie sonst Gummistiefel? „Wir wollen aber auf den Kinderbauernhof. Tobias hat erzählt, daß es da ganz toll ist.“ Tobias. Der wohnte bis vor zwei Jahren mit seiner Mutter in Kreuzberg. In den Ferien war er noch nie auf einem Bauernhof, doch darüber, daß eine Ente der anderen nicht auf den Rücken klettert, weil sie zu faul ist zum Laufen, weiß er bestens Bescheid. In Prenzlauer Berg gibt es keine Kinderfarm.

Die Gelder für das Projekt an der Bernauer Straße wurden im Zuge der Haushaltskürzungen definitiv gestrichen. Ein alternatives Finanzierungskonzept, das die bündnisgrüne Abgeordnete Claudia Hämmerling vorlegte, wurde gar nicht erst diskutiert. Was zählt da noch ein Paar blöder Gummistiefel. Ein Kinderbauernhof, der 15. Geburtstag feiert, ist mehr als nur ein Kinderbauernhof. Über dem Mauerplatz liegt der Duft von Knüppelkuchen, gebackenen Waffeln und Gegrilltem. Malen und angemalt werden, Sack hüpfen und Bogen schießen, Erbsen schlagen und Tombola-Lose kaufen – Kinder lieben es, alles zu wollen.

Auf der Bühne tanzt Steffi, die kann Spagat. Das Publikum klatscht und tobt vor Begeisterung. Steffi ist ein inzwischen groß gewordenes Mauerplatzkind. Genauso wie Oliver, der den Bauernhof über Jahre begleitete, fast sein Studium als Landschaftspfleger an den Nagel hängte und nun ein Lied über dieses ganz besondere Stück Berlin geschrieben hat. Oma Ella darf natürlich auch nicht fehlen, die 78jährige und einzige, die alle Gänse hier beim Namen kennt. Ömer, der erst zehn ist, hat bei der Tombola eine Zahnbürste gewonnen.

„Ich verkaufe sie dir für eine Mark, dann kann ich ein neues Los nehmen. Ich habe sonst weiter kein Geld, weißt du. Und meine Schwester hat doch Geburtstag, da kann ich ihr doch keine Zahnbürste schenken.“ Vor der Bühne trommeln die Samba-Frauen, auf der Bühne wird gesteppt und Break getanzt. Der Kinderzirkus läßt die Bären los, eine kurdische Tanzgruppe wirbelt über den Platz.

Für den siebenjährigen Paul Benjamin aus der Adalbertstraße ist das alles „voll geil“. Aber auch ohne Party kommt er fast jeden Tag auf den Platz. „Wenn erst wieder Sommer ist, dann wird das noch besser hier.“ Sein „Geheimversteck“ will er natürlich nicht verraten. „Höchstens Asa.“ Asa grinst, und die beiden rennen einfach los, so weit das Auge reicht. 9.000 qm Platz für einen Kinderbauernhof, das sei maßlos: Von der Videowand sprechen Politikermünder.

Polizisten in Kampfmontur tauchen auf, leisten ganze Arbeit. Die vom dem Areal vertrieben werden sollen, hauen zurück. Bilder vom März 87. – Fast unbemerkt von den Feiernden läuft im Lehmbauhaus Vergangenes ab. Heike Bötziger, eine von denen, die von Anfang an dabei waren, erzählt, wie 1979 der sogenannte Turm in unmittelbarer Nachbarschaft der Trümmerfläche besetzt worden war, wie sich die Leute aufrafften und angesichts der elenden Grün- und Freiflächensituation im Kiez Pläne für einen Kinderbauernhof am Leuschnerdamm 9 schmiedeten.

Der Stadtökologe Peter Schott resümierte 1990, daß das Projekt spätestens im Jahr 85 als im Kiez angenommen war. „Aus den umliegenden Gewerbebetrieben und von den Baustellen kamen täglich Arbeiter in ihren Pausen auf das Gelände, nachmittags nutzten hauptsächlich türkische Frauen und Mädchen den Rasen für ihr Treffen, abends verbrachten dort regelmäßig Familien aus den umliegenden Häusern ihre Freizeit. An den Wochenenden, besonders bei schönem Wetter, nahm das Treiben auf dem Kinderbauernhof Volksfestcharakter an.“ Tage, an denen ebenso wie heute niemand daran dachte, daß die Fläche längst verplant war. Ausgerechnet eine Kita sollte nach den Vorstellungen des Kreuzberger Bezirksamtes entstehen. Die Kinderbauern wollten keine Reduzierung des Geländes auf einen Streichelzoo, alternative Vorschläge wurden nicht als solche aufgefaßt. Der Staat demonstrierte Macht, als Politiker sich als machtlos erwiesen.

Doch die Kita brannte kurz vor ihrer Fertigstellung ab. Die Schuldigen schienen sofort ausgemacht. „Es dauerte lange, bis es eines Tages hieß, ein Bauausführungsfehler sei Ursache des Brandes gewesen“, so Heike Bötziger. Als die Mauer fiel, entdeckte die SPD, daß der Kinderbauernhof „mit seiner Flächenanlage unter den bisherigen geopolitischen Bedingungen seine Berechtigung“ hatte – aber nun nicht mehr. Wohnungsbau war angesagt. Wieder wurde protestiert, nach dem ersten Schock entstanden zehn Varianten zur Gestaltung des Areals, die dem Kinderbauernhof zwischen 2.000 und 7.000 qm Raum ließen.

Die Stadtplaner Berlins dachten über eine Kinderlandschaft oder einen „pädagogisch betreuten Abenteuerspielplatz“ nach. Perfekt gemacht für Kinder. 1993 bot sich der Bezirk Mitte an, das Projekt haushaltstechnisch zu übernehmen, da mittlerweile viele jungen und Mädchen aus dem Nachbarbezirk den Bauernhof nutzten und mit der Begründung, daß künftig nur noch ein Kinderbauernhof pro Bezirk vom Senat finanziert werden könne, dem Mauerplatz zum Januar 94 die ohnehin schon dürftigen Mittel gestrichen worden waren. An den Plänen, nunmehr eine Schule durch einen freien Bauträger oder Investor errichten zu lassen und das Gebäude dann anzumieten, hat sich bis heute nichts geändert, war aus der Bezirksverwaltung zu erfahren.

Ende letzter Woche waren bereits Hoch- und Tiefbauamt auf dem Platz. Probebohrungen müßten auf dem Gelände durchgeführt werden. Die Tiere könnten solange doch sicher umgesetzt werden, hieß es. Gesprochen wurde mit den Kinderbauern wieder einmal nicht. Heike Bötziger versucht, ruhig zu bleiben. „Ist es keine Schule, ist es eben ein Klärwerk. Wir werden immer diejenigen sein, die maßlos sind. Doch wir sind ja kein Traditionsverein, wir müssen nicht bleiben, weil wir immer schon da waren, sondern weil wir uns entwickelt haben.“ Warum besetzt eigentlich keiner den Platz in der Bernauer Straße? fragt mich Tobias nach der Party, während ich Hühnerkacke von den Schuhen putze. Und ich mich frage, warum am Abend einmal zufriedene Kinder nicht das Maß aller Dinge sein können. Kathi Seefeld