Urkomisch und gruselig real

Nach zähem Rechtsstreit endlich hochoffiziell am Zürcher Schauspielhaus: Werner Schwabs Stück „Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler“, allerdings diesmal ohne l'amour pour l'amour  ■ Von Petra Kohse

Kein Wunder, daß in Zürich noch nie eines der bekannten Schwab-Stücke inszeniert worden ist: In der Kantonalbank bekommt jeder einen Schokoladenhasen geschenkt, auf der Straße leuchtet alle paar Meter ein gelber Zebrastreifen, und wenn man trotzdem ohne Markierung die Seite wechseln will, halten sogar BMW-Fahrer wie selbstverständlich an. Die Stadt verströmt soviel aufgeräumte Freundlichkeit, daß einem die schwabtypisch einsamen Exzesse voller Selbst- und Welthaß plötzlich vorkommen wie Nachrichten aus Mittelerde. Doch der Regisseur Rüdiger Burbach, der schon seit drei Jahren hier lebt, widerspricht: „Die Anzahl der Psychoanalytiker pro Kopf ist in Zürich höher als in Manhattan.“ Was jedoch an der Tatsache nichts ändert, daß es sich bei der allerersten Schwab-Inszenierung am Züricher Schauspielhaus nicht um eines der „Fäkalienstücke“ handelt, sondern um die Uraufführung eines deutlich milderen Textes: „Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler“.

Der 30jährige Burbach (grauer Wollpulli, schwarze Jeans) stammt aus Frankfurt/Main. Theaterwissenschaftsstudium in Berlin, dann Regieassistenz am Schiller Theater und nach dessen Schließung als Dramaturg ans Züricher Schauspielhaus. Die Dramaturgie ist aber nur sein „zweites Steckenpferd“, viel lieber will er inszenieren. Für seine erste Regiearbeit suchte er sich den Schwab-„Reigen“ aus, die Premiere sollte am 15. März 1995 sein. Doch dann kamen ihm die Juristen dazwischen.

Werner Schwab, der in der Neujahrsnacht 1993/94 gestorbene Grazwiener Dichter und Bildhauer, hat dieses Stück 1991 geschrieben. Wie seine Verlegerin Eva Feitzinger sagt, lag ihm besonders viel an dieser Schnitzler-Bearbeitung, da Arthur S. neben seinem „Abgott Tschechow“ einer der wenigen gewesen sei, die er habe gelten lassen. Arglos erzählte er auch Schnitzlers Enkel Peter von dem Stück. Der jedoch war darüber ebensowenig erfreut wie der Fischer Verlag, der die Schnitzlerschen Rechte vertritt. Anfang 1992 lag Schwab dann prompt eine Unterlassungserklärung vor, derzufolge seine „Reigen“-Bearbeitung in keinem Land angeboten werden durfte, in dem der Urheberschutz bis 70 Jahre nach dem Tod des Autors gilt. Der Grund: Verdacht auf Plagiat des 1896 geschriebenen Original-„Reigens“, dessen Aufführung Schnitzler ein für allemal verboten hatte, nachdem das Stück 1920 wegen „Unzüchtigkeit“ vom Berliner Landgericht verboten worden war. Schwab unterschrieb.

Als Uraufführungsland des Schwab-„Reigens“ blieb immerhin noch die Schweiz. Denn diese gewährte seinerzeit nur 50 Jahre Urheberschutz, und dort war auch der Schnitzler-„Reigen“ bereits pünktlich am 1. Januar 1982 aufgeführt worden. Mit Erfolg: Peter Schnitzler hatte damals eingelenkt, sich über das Verbot seines Großvaters hinweggesetzt und das Stück freigegeben. Juristisch lag die Unterlassungsforderung an Schwab also nicht gerade auf der Hand – aber dieser hatte ja unterschrieben. Bevor es jedoch in der Schweiz zur Uraufführung des Schwab-„Reigens“ kommen konnte, wurde 1993 auch dort die Schutzfrist auf 70 Jahre verlängert.

Die Frage, ob sich Schwabs Unterlassungserklärung damit auch auf die Schweiz ausweitet, konnte nicht eindeutig geklärt werden. So durfte Rüdiger Burbach zwar anstandslos proben, aber am Tag vor der Premiere ereilte das Schauspielhaus Zürich eine „superprovisorische Verfügung“, und die Uraufführung konnte nur einmalig als geschlossene Veranstaltung stattfinden. Im vergangenen Dezember konnten sich die Verlage schließlich darauf einigen, daß der Fischer Verlag Tantiemen von den Aufführungen des Schwab-Stückes kassiert. Die Rechtsrangeleien wirken zwar stillos, die dahinter steckende Konkurrenzangst ist indes verständlich: Schnitzlers „Reigen“ ist als Lesedrama unerreicht raffiniert. Aber auf der Bühne möchte man dieses Konversationsstück über das amouröse Davor und Danach vor hundert Jahren nicht mehr sehen. In seiner Bearbeitung hat Werner Schwab Schnitzlers Grundidee übernommen: Dirne trifft Soldat, Soldat trifft Stubenmädchen, Stubenmädchen trifft jungen Herrn und so weiter, bis sich der Reigen nach der zehnten Person wieder schließt. Schwab orientiert sich auch am Ablauf der jeweiligen Begegnung, hat dabei allerdings die Position der Frauen gestärkt und die koketten Balzspielchen in teilweise recht aggressive Anmache zweier gleichberechtigter Partner umgewandelt.

Der entscheidende Unterschied indes ist, daß es bei Schwab keine l'amour pour l'amour gibt. Wo Schnitzler die Pikanterie den Lohn der Leere danach sein ließ, geht es bei Schwab größtenteils um die Durchsetzung materieller Interessen. So gibt sich bei Schwab kein Stubenmädchen einem jungen Herrn hin, sondern eine Friseuse ihrem Hausherrn, damit er ihr die halbe Miete (und die Betriebskosten!) erläßt. Um die Anonymität des Systems zu unterstreichen, tragen die Männer abschraubbare Plastikschwänze, die sich die Frauen bei Bedarf unter den Rock schieben oder die sie ihnen entreißen.

Schwab hat den Liebesreigen sinnfällig in die Jetztzeit fortgeschrieben und ihn natürlich in seine eigene Sprache übersetzt. Und ist ihm eine solche Übersetzung bei „Faust: Mein Brustkorb: Mein Helm“ zur albernen Goetheparaphrase mißraten, funktioniert sie hier tatsächlich. Die bekannten fäkalsprachlichen Amtsdeutschpervertierungen, mit denen sich Schwabs Figuren monologisch aus ihrem Kleinbürgerdasein in gepflegtes Zombietum zu katapultieren versuchen, werden im „Reigen“ nur angedeutet und stehen im Dienst eines echten Dialogs.

Die Kellerbühne des Züricher Schauspielhauses hat Johann Jörg dunkelrot ausgeschlagen. Ein Aquarium mit Fischattrappen und ein Friseurstuhl stehen da, andere Versatzstücke (Bett, Schrank, Sofa) lassen sich ausfahren und aufklappen. Ein nicht besonders ausgefallenes, aber praktisches Einheitsbühnenbild. Dann beginnt das Spiel. Ausgerechnet die Eingangsszene wird hölzern deklamiert, aber danach kommen noch neun andere, die dieses Stück wirklich verdient hat: Rüdiger Burbach und seine Schauspieler machen aus den Episoden wunderbare Einakter, in denen die Figuren über die Einzelbegegnung hinaus Kontur gewinnen. In ihrer eitlen oder einsamen Verzweiflung sind sie urkomisch und gleichzeitig geradezu gruselig real. Daß es ihnen nach dem jeweiligen Quickie nicht besser gehen wird, wissen sie alle. Individuell verschieden ist nur, ob sie wenigstens ein Minimum an Lustgewinn daraus schlagen. So spielt Ursula Maria Schmitz als arbeitslose Sekretärin (süßes Mädel) ohne Sentimentalität den Mißbrauch durch ihren eventuellen Chef (Lorenz Claussen), während Katharina Schmölzer als Schauspielerin schön enthemmte Orgasmen dabei hat. Gerade wie letztere juchzt und ihren Hintern in dem mit Fransen bestückten Leopardenbody (Kostüme: Jessica Karge) kreisen läßt, ist symptomatisch für Burbachs souveränen Umgang mit Schwabs Maschinensex: Es ist albern, aber dabei tatsächlich sinnlich – künstlerisch überzeichnet, aber nicht entstellt.

Obwohl das Tagblatt der Stadt Zürich am Dienstag von dem „skandalträchtigen Stück über die Schweinereien des Geschlechtlichen“ berichtete und sich die Zürichsee-Zeitung empörte, „das Schauspielhaus entsorge das Stück Dreck“, ließ sich das Publikum am Abend durch die Plastikschwanzschlacht nicht im geringsten irritieren. Die aberwitzige Schwab-Sprache kam bestens an, und bewundernde Ausrufe würdigten Ausstattungsdetails wie die grasgrünen, wadenhohen Sandalen aus Robbenfellimitat, die Luwdig Boettger in der Rolle des Dichters trug. Ein Abend des allgemeinen Wohlgefallens und der freundlichen Lust an einer gemäßigten Extravaganz. Ein Abend in Zürich.

„Der reizende Reigen nach dem Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler“. Von Werner Schwab, Regie: Rüdiger Burbach, Schauspielhaus Zürich