Schlamm und Humus

■ Die strahlenden Zeitbomben werden erstmals kartiert

Kiew (taz) – „Praktisch jedes Gebiet in der Ukraine ist kontaminiert“, stellt Jewgen Jakowlew, der Chef des Staatskomitees für Hydrogeologie in Kiew nüchtern fest. Doch nach den Untersuchungen des Wissenschaftlers sind 95 Prozent des strahlenden Cäsiums, Strontiums und Plutoniums chemisch fest in der Humusschicht gebunden – also in den oberen Zentimetern des Bodens. Für den Hydrologen ist das ein Vorteil, weil so die Belastung des Grundwassers gering bleibt. „Ganz anders sieht es aus, wenn wir von der Biologie reden“, meint Jakowlew. Denn Pflanzen lösen die strahlenden Mineralien aus dem Humus und reichern sie in der Nahrungskette an. 90 Prozent der Strahlenbelastung für die Bevölkerung in Weißrußland und der Ukraine stammen deshalb aus dem Essen.

„Gefahr durch das Wasser droht nur dort, wo Umweltverschmutzung hinzukommt“, sagt Jakowlew. Leider ist das in der Ukraine häufig der Fall. In Bezirken wie Dnjepropetrowsk liegt der Anteil der Industrieflächen bei rund 80 Prozent. „Dort ist der Boden chemisch verändert, Verbindungen werden leichter ausgewaschen“, erklärt der Komiteechef. „Leider haben wir erst jetzt, zehn Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl, einige genauere Karten der Verschmutzungen und Verstrahlungen. Wir erkennen nun, daß oft Leute an Plätze evakuiert wurden, die gefährlicher waren als ihr Heimatdorf.“

Eine andere Zeitbombe ist der Dnjepr-Stausee nördlich von Kiew. Einer seiner Zuflüsse ist der Pripjat, der vorher die Reaktoren von Tschernobyl mit Kühlwasser versorgt. Vor zehn Jahren lief die radioaktive Brühe in den Fluß und setzte sich dann als dünne Schlammschicht am Boden hinter dem Damm ab – in den Jahren nach der Katastrophe waren zum Glück keine starken Fluten oder Schneeschmelzen.

„Hier lauert ein zweites Tschernobyl“, meint Walodymir Kuhar, der Stellvertreter von Jakowlew. Der Damm muß mindestens dreihundert Jahre halten. Solange dauert es, bis das häufigste Nuklid Cäsium137 zum größten Teil zerfallen ist. rem