Angst vor der Eskalation

Nach zwei Räumungen ist die Besetzerszene verunsichert und fürchtet „Zerschlagung der linken Struktur“. Zu Ostern Besetzer- und Wagenburgentage  ■ Von Gereon Asmuth

Die Sonne scheint durch die Erker herein und ungehindert auf der anderen Seite wieder heraus. Wo vor kurzem noch Fenster waren, gähnen nur noch Löcher in der Fassade. Seit anderthalb Wochen ist die Palisadenstr. 49 in Friedrichshain unbewohnt. Die Polizei räumte hier eine angebliche Neubesetzung. Der folgende Bautrupp leistete ganze Arbeit. Möbel flogen auf die Straße, das Haus wurde unbewohnbar gemacht. Einen Tag später folgte die Räumung der Kleinen Hamburger Str. 5 in Mitte. Beide Häuser waren seit 1990 durchgehend besetzt.

Die Räumungen haben nicht nur die Bewohner der beiden Häuser getroffen. In der Besetzerszene hält man sie für den Beginn einer schon länger befürchteten Aufräumaktion, mit der sich der neue Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) profilieren will. Ungewollte Brisanz verschafften die Räumungen aber auch den seit Monaten vorbereiteten Häuser- und Wagenburgtagen, zu denen sich die bundesweite Besetzerszene zu Ostern in Berlin trifft.

„Wir hatten die subversive Strategie, so lange wie möglich keine Verträge abzuschließen“, meint Paul, ehemaliger Bewohner der Palisadenstraße. „Auch wenn es schwierig ist, alles verloren zu haben, stell' ich diese Position jetzt nicht in Frage.“ Hausbesetzung sei eine Form, die Diskussion über das Grundrecht auf Wohnen in Gang zu halten. „Verträge geben persönlich und politisch Sicherheit“, ergänzt Petra, seit der Räumung ebenfalls obdachlos. „Aber ich brauch' ja nur die Häuser anzugucken, die Verträge haben. Sobald Miete gezahlt wird, folgt ein Rückzug auf soziale Klassenunterschiede. Man kann es sich kaum noch leisten, Leute aufzunehmen, die kein Geld haben.“ Ideal sei es daher, gar nichts für die Wohnung zu zahlen und keine Zeit damit zu verlieren, das Geld für die Miete zu erarbeiten.

Dabei geht es den Besetzern nicht um grenzenlose Freizeit. Paul wehrt sich gegen das Vorurteil, sie würden den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen. „Wir leisten unentgeltliche Arbeit, die Senat und Bezirk eigentlich wertschätzen sollten.“ Veranstaltungsräume wie das „Größenwahn“ in der Kinzigstr. 9 („K 9“) sind in fast allen Häusern zu finden. Neben Filmvorführungen werden hier auch Geschichtsabende mit jüdischen Frauen oder Zeitzeugen des Widerstands während der Nazizeit angeboten. „Seit Jahren bemühen wir uns um langfristige Verträge, um das Haus abzusichern“, berichtet Konrad, der auch in der „K 9“ wohnt. „Aber die Wohnungsbaugesellschaft weigert sich.“

Auch als Anlaufpunkt für Flüchtlinge und Migranten sehen sich die Häuser. „Da leisten wir Sozialarbeit, die politisch nicht gewollt ist. Aber für die Trebekids, die bei uns Unterschlupf finden, steht eigentlich der Staat in der Pflicht“, sagt Kati. Die Besetzerin der „K 9“ kritisiert die zweischneidige Politik des Bezirks, über fehlende Gelder für soziale Projekte zu jammern, aber nichts für die Häuser zu tun, obwohl dort ein Teil der Arbeit geleistet werde. „Wir sind ein bißchen in den Bezirk integriert, aber genau das ist nicht gewollt“, ärgert sich Kati. Vor drei Jahren habe der Bezirk noch mit den Häusern als Teil einer bunten Mischung geworben. Aber mit Blick über die Dächer auf die drohenden Glaspaläste der Frankfurter Allee ergänzt Kati: „Heute stören wir doch nur noch bei dem Versuch, Friedelhain auf ein höheres soziales Niveau zu puschen.“

„Es geht jetzt gar nicht um die fünfzehn noch besetzten Häuser“, befrüchtet auch Konrad. „Die wollen die gesamte linke Struktur zerschlagen. Die wollen die Eskalation, den Krawall, die schlechten Schlagzeilen.“ Absichtlich habe man daher bei der Großdemonstration gegen den Sozialabbau am 27.März nicht den üblichen Häuserblock gebildet. „Wir hatten Angst, daß wir von der Polizei angegriffen werden und es hinterher heißt, die bösen Besetzer hätten die Demo gesprengt.“

„Es geht um die Stadt als zentralen Ort machtpolitischer und wirtschaftlicher Interessen und Spiegelbild gesellschaftlicher Zusammenhänge“, formulieren auch die Bewohner der acht innerstädtischen Wagenburgen. Im vergangenen Herbst hatten sie mehrfach zu runden Tischen geladen, um eine dauerhafte Lösung für die Plätze zu erarbeiten. Sarah, deren Zirkuswagen direkt am Spreeufer steht, ist enttäuscht über die Politiker. „Erst kam kein einziger akzeptabler Vorschlag, und nach den Wahlen kamen nicht mal mehr die Politiker.“ Die „Wagenasseln“, wie sie sich selbst nennen, befürchten nicht nur die Zerstörung der dorfähnlichen Strukturen, die sich auf den Plätzen gebildet haben. „Die gängige Methode, bei Bauvorhaben so zu tun, als ob niemand auf den Plätzen wohnen würde, ist nur ein Symbol für die alltägliche Vertreibung“, meint Sarah. Ganz ohne Wagenburgmentalität wollen sie daher über Ostern mit nationalen und internationalen Gästen über die an der Verwertbarkeit orientierte Stadtent- und -abwicklung diskutieren. Gereon Asmuth