■ 6. Traditioneller Ostermarsch der Hühnerzüchter
: Eierlikör aus Gummistiefeln

Sein Blick ist getragen von grimmiger Entschlossenheit. Horst Penke, ehemals werktätig im KIM (Kombinat Industrielle Mast) hat sich wie viele seiner Kollegen auf den Weg gemacht. Auf den Weg zum großen Veteranentreffen, denn dies ist nun schon das sechste Ostern ohne KIM. In allen Teilen der ehemaligen Republik haben sie sich aufgerappelt. Ein eindrucksvoller Sternmarsch, ein Ostermarsch als machtvolles Vermächtnis des einstigen, aus purer westlicher Profitgier abgewürgten Großversuchs, sozialistische Broiler und Eier mit hohem Frischegrad industriemäßig zu produzieren.

Horst hat vor Aufregung schon nächtelang nicht mehr schlafen können. Heute früh noch ein prüfender Blick ins Spiegelei, die Geheimratsecken mit der Geflügelschere nachgeschnitten. Fünf Uhr ist Abmarsch. Eine Hundskälte. Doch die Kollegen machen sie mit warmen Worten wieder wett. Der Osten begehrt auf. Mitgeführte Plakate lassen nicht den geringsten Zweifel aufkommen, daß die eiernden Marschierer dem Biohühnerhof, den glücklichen Hühnern aus Bodenhaltung alles andere als versöhnlich gegenüberstehen. KIM – das stand nicht nur für Kombinat Industrielle Mast, sondern auch für „Köstlich Immer Marktfrisch“.

Heiter schleppen sie ihre Rucksäcke voll hartgekochter Hühnereier. Unablässig entnehmen sie ihnen erstaunlich behende die nahrhafte Ladung und würzen herzhaft mit den mitgeführten Salzstreuern, die lustig an ihren Uhrenketten baumeln. Kecke Trevirahütchen runden das Bild angemessen ab.

Kämpferische Sprechchöre („Tandaradei / Bei Broiler und Ei“, „Nimm ein Ei mehr“) stimmen sie in jeder Ortschaft an, die sie kraftvollen Schrittes durchmessen. Vereinzelte Wiedereinrichter schicken ihnen regionalspezifische Verwünschungen nach. Lethargische Umschüler senden wehmütige Blicke aus, arbeitslose Mitarbeiter ehemaliger Konsum-Verkaufsstellen winken halbentschlossen. Die nicht minder arbeitslose Zootechnikerin Erna Kükenstump (46) blüht sichtlich auf, als der verwegene Haufen den Dorfeingang von Zeesen passiert. Unversehens ist eine Fachsimpelei über Salzstreuer mit Zwiebelmuster angezettelt. Die schwer vermittelbare Exgenossenschaftsbäuerin lobt zudem die Formenvielfalt. Hinter den munteren Güllebächlein gewährt sie den proletarischen Helden pikante Einblicke in ihre Eierstöcke. Die Männer sind fasziniert und heißen sie mitgehen.

Noch vor dem Kaffeetrinken ist die Festwiese in Königswusterhausen erreicht. Mit viel Geschick haben die Veranstalter ein großes Zelt auf die Hutung geleimt. Aus allen Richtungen treffen nun die Ostermarschierer ein. Ein Hallo nach dem anderen.

Natürlich hat man sich was einfallen lassen. Für das leibliche Wohl ist gesorgt. Broilerstände, soweit das Hühnerauge reicht. Nachlässig frikassiertes Federvieh läuft um sein Leben. Eine Tauschbörse für Salzstreuer mit Zwiebelmuster und aus Streichhölzern nachgebaute Legebatterien laden zum Verweilen ein. Hier schlagen die Herzen höher als in jeder Hühnerbrust. An einem Ende hört man alten KIM-Taft rascheln, am anderen zünftige Musi. Gesang bricht aus, und die Sonne hängt wie ein aufgepumptes Riesendotter am Himmelsbogen. Wer da dabei sein könnte.

Eierlaufen, Omelettfrisbee, Rohe-Eier-Wettessen, Broilerweitwurf, an alles wurde gedacht. Die Veteranen haben sich fit gehalten. Hier können sie zeigen, was in ihnen steckt. Das KIM-Kabarett „Die Eierschneider“ stellt typische Arbeitsabläufe in pantomimischer Form nach, und die Augen der meisten füllen sich mit Betroffenheitssekret. Kurzum: eine Stimmung wie in einem Hühner-KZ.

Die Festrede hat begonnen. Herwig Meitenau, vormals Parteisekretär der Geflügelmast Hermsdorf, erinnert im sympathischem Idiom der KIM-Mitarbeiter an die ZK-Beschlüsse, wonach der Weg zu einer ausreichenden Versorgung mit Produkten der Geflügelwirtschaft nicht über den traditionellen, idyllischen Hühnerhof, sondern über die industriemäßige Großproduktion zu beschreiten sei. Während der Mastzeit hätten die Broiler ein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zusammengestelltes Futter erhalten. Er betont, daß es sich beim Broiler um die Züchtung von Spezialhybriden, die sehr fleischwüchsig waren, handelte, und hebt unter dem Jubel der Veteranen hervor, daß er daher einen Vergleich mit dem altbekannten Backhähnchen energisch zurückweise. Ergriffen fassen sich die ZuhörerInnen bei den Händen und schwenken ihre Salzstreuer. Alle sind ein Ruf. Den westlichen Hühnerbaronen wird man es zeigen! Kein Fußbreit den kriminellen Hühnerbaronen! Selbstverständlich unterläßt man alle Anstrengungen, nicht betrunken zu werden. Eierlikör aus Gummistiefeln Marke Aktivist. Auch das überall ungeniert angebotene Fischmehl zeigt bereits erste Wirkungen.

Erna Kükenstump geizt nicht mit den Wohltaten ihres Fleisches. Eine Brust, so weiß wie Broilerfleisch, kriecht ihr auf die Knie, die der ihr verfallene Horst Penke ergeben mit dem Salzstreuer kost, während er versonnen Kraftfutterpellets kaut.

Ringsum befindet sich das Treiben in Auflösung. Als ihre Ausdünstungen den Horizont verdunkelt haben, bis keine Luft mehr zu sehen ist, werden erste akute Fälle von Salmonellenvergiftungen abgeholt. Bei einigen ist die letzte Eieruhr endgültig abgelaufen. An Ort und Stelle werden sie begraben. Die Hinterbliebenen balgen sich, so weit sie noch dazu fänig sind, um die verwaisten Salzstreuer und arbeiten sich Zwiebelmuster in die Physiognomien. Geschlagen und arg zerzaust wendet sich Horst Penke ab. Die nässenden Wunden tupft er mit flaumigen Küken trocken, die als Fußbodenbelag herhalten müssen. Ja, die Welt ohne KIM ist hart. Vielleicht klappt's beim nächsten Ostermarsch. Michael Rudolf