Hinausgetragen in die große Weite

■ Die Säulen aller amerikanischen Musik auf der Folie des Punk: Jeffrey Lee Pierce, der mit seinem Gun Club den Gitarrenrock in den achtziger Jahren rettete, ist tot

War man Ende der Siebziger ein paar Jahre zu jung für Punk, blieb einem Anfang der Achtziger nur Frustration. Dann las ich irgendwo, „der Rock'n'Roll hätte noch eine Chance, solange es Bands wie den Gun Club geben würde“. Über Gitarren, die hysterisch zu vergessen versuchten, daß sie eigentlich auf den Müllhaufen der Geschichte gehörten, fand die Stimme von Jeffrey Lee Pierce eine Tonlage, die kurz vor dem Umkippen versicherte, daß man die schnellen Zeiten zwar überholen konnte, aber nur, um doch wieder bei den alten Geschichten, den alten Mythen zu landen.

Die große Weite, Hochhausschluchten, karstige Steppen und schwüle Sümpfe, die Landschaften waren dazu verurteilt, den Gefühlen Gestalt zu geben. Und Pierce ließ sich treiben vom „Ghost on the Highways“, vom „Sex Beat“, und war doch nur auf Suche nach der „Mother of Earth“.

Auf der ersten LP, „Fire of Love“, nahm sich der Gun Club den Blues, auf „Miami“ Country zur Brust. Die Säulen aller amerikanischen Musik wurden anhand der Hintergrundfolie Punk in die Achtziger überführt. Dann fanden die beiden Linien zusammen, und „Las Vegas Story“ war schlicht die beste Rockplatte, die 1984 noch denkbar war. Mutig, gerade weil ihr Blick so retrospektiv war. Die Musik war für damalige Verhältnisse von nahezu epischer Breite, und sogar das inkriminierte Giarrensolo erfuhr seine Wiedergeburt. Die Gitarren durchschritten von Ost nach West das „Bad America“, in dem sich ein zurückgelassener Pierce nach dem enttäuschten amerikanischen Traum verzehrt: „I was all alone, and where did you go.“ Der Gun Club und wenige andere bereiteten ein Klima, in dem sich wieder Gitarrenbands aus ihren Garagen wagten, und machten schlußendlich – wenn man es denn so sehen will – Seattle erst möglich. Nach den ersten drei LPs war die Gitarre wieder rehabiliert, und Pierce blieb allein die Rolle des Pioniers und schließlich des Sachwalters, der in den Neunzigern zu den Wurzeln zurückkehrte und eine Platte mit Blues-Standards und -Entdeckungen aufnahm. Bands wie REM verachtete er, weil sie Rock im Mainstream wieder zum Stillstand brachten. Seine Stimme hatte sich derweil hochfliegend verausgabt und erholte sich nun meist in zurückgelehnten Eigenkompositionen wie ein alter Mann, stolz auf das Erreichte. Und auch privat schien er den bösen Dämonen, die ihn trieben, abgeschworen zu haben.

So überraschte die Nachricht von seinem Tod dann doch. Zu sehr hatte man sich daran gewöhnt, daß Pierce in den letzten Jahren zwar immer spinnerter, aber auch jedesmal ein wenig gesünder auf die Bühne stieg. Dennoch hatte Jeffrey Lee Pierce – weniger authentisch als altmodisch – den Lebensstil adaptiert, der zu der Musik zu gehören schien, deren Aufarbeitung und Bewahrung er sein Leben widmete. Heroin, Alkoholismus, Leberzirrhose, finanzielle Pleite, psychiatrische Behandlungen waren die Folgen. Am vergangenen Sonntag erlag Pierce im Alter von 37 Jahren in Salt Lake City einem Herzinfarkt. Vor drei Jahren erzählte er der taz über Will Shatter von Flipper: „Natürlich ist er jetzt tot. Das wird uns allen passieren.“ Thomas Winkler