Alle Bachstelzen heißen Mariuerla

Vom Eise befreit, endlich: Zu Ostern erlebt das sonst karge Island den Ansturm brütender Vögel. Graugänse trompeten Warnlaute heraus, Rotschenkel vertreiben Eindringlinge mit ihrem unentwegten „Tjik, tjik, tjik ...“  ■ Von Wolfgang Müller

Kleine, bunte Fischerboote liegen im Hafen von Stykkishólmabaer. Das Becken wird durch die Sturmschutzinsel Sugandisey – sie besteht aus gleichmäßig geformtem Säulenbasalt – vom Meer getrennt.

Im hügelig-felsigen Stadtgebiet stehen verstreut gelb-, blau- oder rotgestrichen und wellblechverkleidet ein- bis zweistöckige Wohnhäuser. Darunter befindet sich auch das 1823 aus norwegischem Holz erbaute erste doppelstöckige Haus Islands, das Norska husid. Auf einer Anhöhe reckt sich die in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts errichtete Kirche, ein kühn geschwungener, kalkweißer Bau, der Ähnlichkeiten mit dem gut erhaltenen Hinterleib eines verunglückten Flugzeugs aufweist.

Bis zur Abfahrt der Fähre „Baldur“ entspannt man sich als Reisender im wohltemperierten Schwimmbecken und dem kleinen Hot Pot der Badeanstalt, die von außen wie ein flacher Lagerschuppen aussieht. Vor der Abfahrstelle befindet sich ein kleiner, verwinkelter Laden. Lebensmittel, Süßigkeiten, Spielzeug, Souveniers und Leihvideos drängen sich in den Fensterbänken, Regalen und Vitrinen. Vor der Verkaufstheke stehen ein Tisch und zwei Stühle: die Kaffee-Ecke. Die Fähre verkehrt ein- bis zweimal in beide Richtungen über den Breidafjördur. Einen kurzen Zwischenstopp legt sie auf der Insel Flatey ein. Knapp drei Stunden dauert die Fahrt bis zur Endstation Brjanslaekur an den Nordwestfjorden.

Die Brücke zum Schiff wird geöffnet. Nieselregen benetzt die etwa 20 Reisenden, die sich alsbald in den beiden Stockwerken verlaufen. Papageientaucher flattern hektisch über das dunkle und kalte Meer. Kormorane und die kleineren Krähenscharben, erkennbar an der nach vorn gebogenen Federhaube auf dem Kopf, sitzen einträchtig in Kolonien auf den zahlreichen Felsformationen entlang der Schiffsroute.

Von den über 2.700 Inseln und Schären im Breidafjördur ist nur diese bewohnt: Flatey, die flache Insel, auch „Perle des Breidafjördur“ genannt. 17 Menschen leben auf dem 0,41 Quadratkilometer großen, 1,8 Kilometer langen und bis zu 500 Meter breiten Eiland – und Abertausende von See-, Watt- und Singvögeln.

Seit 1975 stehen Teile von Flatey unter Naturschutz. Annähernd 20 Vogelarten brüten auf der baumlosen Insel. Auf einer direkt ans Meer grenzenden Koppel liegt der Campingplatz. Den Aufbau des windfesten Zeltes begleiten zwei silbergraue Graugänse (Anser anser) durch lautstark heraustrompetete Warnlaute: „Aahng- ong-ong“. So jedenfalls beschreibt Pareys Vogelbuch die Laute in Buchstaben. Grágás, also Graugans, lautet auch der Name des ältesten isländischen Rechtsbuches. Es entstand im 12. und 13. Jahrhundert und erhielt diesen Namen, weil man diesem Tier das Erreichen hohen Alters zuschrieb (nachzulesen bei H. P. Hasenfrank: Die religiöse Welt der Germanen).

Eine Himmelsziege, wie der Volksmund die Bekassine (Gallinago gallinago) nennt, vollführt elegante Balzflüge in großer Höhe. Ihren Spitznamen bekam der drosselgroße Schnepfenvogel aufgrund des meckernden Geräusches, das entsteht, wenn bei seinen Sturzflügen der Wind die gespreizten Schwanzfedern vibrieren läßt. Von Zeit zu Zeit läßt er sich auf den Triften nieder. Dort stochert der Vogel mit dem pinzettenartigen Schnabel nach kleinen Kerbtieren, Larven und Würmern und läßt seinen Ruf erschallen, der wie eine verrostete Eisentür klingt, die ständig bewegt wird: „Tüke, tüke, tüke“. Ein einsamer Goldregenpfeifer nördlicher Rasse (Pluvialis altifrons) gesellt sich dazu und ruft schwermütig „Tlü-i“. Sein goldgelbgefleckter Rücken schimmert wie ein altes Brokatkissen im Sonnenlicht. Zwischen landwirtschaftlichen Geräten zielen drei Austernfischer (Haematopus astralegus) mit langen, karottenroten Schnäbeln nach winzigen, im Tau gefangenen Kribbelmücken. In Deutschland werden sie wegen ihres Aussehens auch Strandelster oder Elsterschnepfe genannt.

Nicht weit vom Zeltplatz liegt der Friedhof von Flatey. Die dazugehörige Kirche wurde 1926 erbaut, dahinter steht die älteste Bücherei des Landes, die 1863 Richtfest hatte. Ein weißgestrichener Holzzaun umgrenzt das kleine Arreal auf einer Wiese neben der Kirche. Verstreut ragen Grabsteine und Holzkreuze aus der bald schon löwenzahnblütenübersäten Wiese. Auf dem höchsten Grabstein, einem verwitterten, mit ockerfarbenen Flechten überzogenen, sich himmelwärts verjüngenden Basalt, wippt ein lang- und dünnbeiniger Rotschenkel (Tringa totanus). Nervös ruckt der turteltaubengroße, braun-weiß gefärbte Vogel mit dem Kopf. Der Näherkommende wird mit aufgeregten und unentwegten Rufen empfangen: „Tjik, tjik, tjik..., tjik, tjik, tjik“. Schließlich öffnet der Wattvogel überstürzt die Flügel, läßt sich von einer starken Brise hochtragen und umkreist im Gleitflug schimpfend den Eindringling – solange, bis dieser sich entfernt hat.

Unterhalb des Friedhofs verläuft der schmale Sandweg, der sich von der Fähranlegestelle durch die gesamte Länge der Insel bis hin zur Steilküste im Nordwesten zieht. Zwei Bachstelzen (Motacilla alba) spazieren auf seinem hellen Sand. Mit rhythmisch wippenden Schwänzen eilen sie hin und her, kleine Insekten erhaschend. Auf Isländisch heißt die Bachstelze „mariuerla“. Der zweite Teil ihres Namens, Erla, zuerst nur als Name fiktiver Personen in der isländischen Poesie verwandt, wurde ab 1918 ein beliebter und häufiger Frauenname. Dort, wo der Weg seinen ersten Schlenker nach links macht, liegt eine Senke, die Snorri- oder Brekkahofmoor genannt wird. Versteckt zwischen hohen Graspolstern bebrüten zahlreiche Küstenseeschwalben (Sterna paradisaea) ihre meist zwei Eier. Jedes Frühjahr ziehen die graziösen, kleinen Möwen ähnelnden Vögel von der 17.000 Kilometer entfernten Antarktis hierher. Das ist Weltrekord für den längsten Zugweg. Durch ihre weiten Flüge genießt der Vogel mehr Tageslicht als irgendein anderes Lebewesen der Erde.

Nur manche ihrer einfachen, ungepolsterten Nestmulden sind mit kleinen Muschelsplittern ausgelegt. Die hübschen schwarz- weiß-grau gefärbten Seeschwalben erheben sich schrill und heiser kreischend, schwirren und segeln elegant über das Brutgebiet. Plötzlich, wie auf ein unsichtbares Kommando hin, zielen sie im Steilflug auf den Kopf desjenigen, der sich zu nah an die Niststätten gewagt hat. Dabei stoßen sie knarrende, herzzerreißende Schreie aus: „Kria, kria“. So lautet auch ihr isländischer Name, Kria. Wieder und wieder attackieren sie den Eindringling, ohne ihn jedoch ernsthaft zu verletzen. Gern lassen sie etwas ätzenden, weißen Vogelkot auf seine Kleidung fallen.

Auf der anderen Seite des Weges liegt das Möwenseemoor, eine sumpfige Wiese und, nur durch ein paar Grassoden vorm Abfließen in das etwas tiefer liegende Meer geschützt, ein kreisrunder Teich, etwa 20 Meter Durchmesser, mit einer kleinen Insel in der Mitte.

Das künstlich angelegte Biotop ist ein Treffpunkt von Seeschwalbenschwärmen. Trupps von 20 bis 30 dieser Vögel kommen herangeflogen, verharren einige Sekunden im Rüttelflug über dem Gewässer, die Köpfe dabei beständig nach links und rechts wendend, um schließlich im Sturzflug herunterzuschießen.

Kurz darauf tauchen sie wieder auf, rütteln ihren Körper und schaufeln mit den Flügeln Wasser über das aufgeplusterte Federkleid. Das Meersalz löst sich und rinnt durch die gespreizten Federn ab. Die Vögel schütteln sich in offenkundiger Wonne. Anschließend fliegt die Gruppe zu einem kahlen Hügel am Ufer, putzt und trocknet das Gefieder. Auf ein unsichtbares Zeichen hin erheben sie sich, segeln sanft und lautlos zum Meer.

In kurzen Abständen erscheinen immer wieder neue Badetrupps. Gelegentlich schließen sich ihnen einige der großen Heringsmöwen (Larus fuscus) an. Beinahe schüchtern mischen sie sich unter die viel kleineren Seeschwalben.

Ein Schneeammermännchen (Plectophenax nivalis) im Sommerkleid, leuchtend weiß mit schwarzem Rücken und Flügelspitzen, kehrt am Ufer ein. Es trinkt ein paar Schlückchen, räkelt sich und steuert eine Felsnase am Rande der Wiese an. Von dort aus läßt es eine einfache, schöne Melodie in Richtung Meer erklingen: „Tjuri-tjuri-tjuri-tetiü“.

Der Sandweg führt in den Ort – eigentlich sind es nur ein paar bunte, wellblechverkleidete Häuser, die recht nah zusammenstehen. Und doch trägt Flatey seit 1777 offiziell den Status eines Handelsortes und gilt als eine der ersten Städte Islands überhaupt. Bekannt ist Flatey auch durch das Flateyjarbók, eine im Auftrag des Bauern Jón Hakornarson entstandene Handschriftensammlung.

Gleich neben einem niedrigen, dunkelbraun gestrichenen Haus ragt ein mehrere Meter hoher, massiver Betonpfeiler mit unbekannter Funktion aus dem Boden und, direkt daneben, steht eine öffentliche Telefonzelle auf der grünen Wiese. Dahinter erstreckt sich ein schmaler Teich, vielleicht fünf Meter lang, mit sich verästelnden Kanälen im hohen Gras des Sumpfes: genannt skans-mýri, Schanzenmoor.

Fünf zappelige Vögelchen – aufziehbarem Blechspielzeug gleich – schwimmen korkleicht auf dem Gewässer, drehen sich behende im Kreis: Odinshühnchen (Phalaropus lobatus), die kleinsten auf dem Wasser schwimmenden Vögel überhaupt. Das Kreiseln ist eine Jagdtechnik, mit der sie Wasserinsekten und deren Larven aufwirbeln. Es sind allesamt Weibchen. Nur sie tragen den kräftig-rostfarbenen Brustschild. Die unauffällig grau gefärbten Männchen sind nicht zu sehen. Ihnen allein obliegt das Brutgeschäft und die Aufzucht der Jungen. Sie sitzen wohl noch auf den Eiern im unter Grasbüscheln versteckten Nest.

Auf einem schmalen Sandstreifen am Rande des Gewässers tippelt ein Sandregenpfeifer (Charadrius hiaticula). Diesen quirligen Wattvogel mit dem schwarzen Hals- und Augenring sieht man nur selten am Süßwasser, lieber hält er sich an Salzwasserküsten auf. Kurze Zeit später erhebt er sich, düdelt dabei klangschön eine Balzstrophe: „Quitu-wiu quitu- wiu“, und verschwindet im fledermausartigen Flug.

Das Meer schäumt gegen die Felsen Lundabergs. Eine Gruppe Eiderentenmännchen (Somateria mollisima), etwa 30 an der Zahl, schaukelt schwerfällig in sicherem Abstand vor der Küste auf den unruhigen, dunklen Wellen. An ihrem schönen, moosgrünen Genick, dem leicht rötlichen Anflug auf der Brust, dem weißen Rücken und schwarzen Bauch sind diese Meeresenten leicht zu erkennen. Abwechelnd rufen sie laut schallend „Uhú, uhú“.

Auf großen, dunkelgrauen Steinen sonnen sich bäuchlings ein paar Gryllteisten (Cepphus grylle). Die krapproten Füße des Alkenvogels leuchten bezaubernd in der isländischen Sonne. Mit ihrem pechschwarzen, glatten Gefieder und ihrem scharfumrissenen, weißen Fleck am Flügel sehen sie aus wie kleine Meeressirenen im Gummidreß. Gelegentlich tauscht ein Pärchen sonderbare, zwitschernde Sirrlaute aus.

Gryllteisten sind, wie viele Arten der Alkenfamilie, begabte Taucher, aber untalentierte Flugkünstler. Nur der Papageientaucher plumpst noch ungeschickter beim Landeanflug auf der Merresfläche auf. Sein wissenschaftlicher Name, Fratercula artica, beudetet „artisches Brüderchen“.

Mit dem papageienartigen, ornamentalen rot-, schwarz- und gelbgestreiften Schnabel und dem schwarzen, hochgezogenen Lidstrich über den orangeumränderten Augen sieht er aus wie ein Tropenvogel, der sich in den Norden verflogen hat. Aufrecht wie ein Pinguin steht er auf den Zehen, watschelt clownesk zum Felsabhang und trudelt hektisch flatternd zum Meer. Beim Tauchen entfaltet der Lundi, so nennen ihn die Isländer, sein wahres Geschick. Wenn er nach einiger Zeit aus dem Meer auftaucht, hängen zahlreiche kleine, silbern glänzende Fische aufgereiht in seinem Schnabel. Es war lange unklar, wie er so viele Fische auf einmal halten kann, ohne sie bei der weiteren Jagd zu verlieren. Schließlich fand man heraus, daß der Vogel seine Beute an den Köpfen zwischen der Zunge und der Schnabelkante festhält und auf diese Weise gleichzeitig den Schnabel öffnen und den nächsten Fisch packen kann.

Energisch strampelt sich der hübsche Alk schließlich vom Wasser los und steuert die Brutkolonien an den Rasenhängen steiler Klippen an. Dort wartet sein Junges am Ende der ins Erdreich gegrabenen zwei bis drei Meter langen Brutröhre.

Bevor der Papageientaucher aber den Fang an das Einzelkind verfüttert, sitzt er mit vollem Schnabel minutenlang vor dem Eingang der Röhre und schaut verwundert auf das Meer und seine Artgenossen.