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„Wir wollen leben können“

■ Ex-Weidedämmler ziehen durch die Stadt auf der Suche nach einer richtigen Bleibe

Alle paar Minuten donnert ein Lastwagen über die Stromer Landstraße. Doch die Mitglieder von „Kwell“, dem Verein für konstruktiven Wahnsinn, einfach leben und leben lassen, scheint der Lärm nicht zu stören. Im Oktober des vergangenen Jahres haben sich die zehn Männer und Frauen hier mit ihren Bau- und Wohnwagen auf einer riesigen Verkehrsinsel mitten im Industriegebiet in der Nähe des Neustädter Hafens niedergelassen. Bis zum 31. März durften sie laut Verwaltungsgerichtsbeschluß bleiben. Nachdem die Frist vor wenigen Tagen abgelaufen ist, wollen die Bauwagenkolonisten jetzt auf ein Gelände an der Bremer Universität ziehen.

Für das Grundstück am Neustädter Hafen hat der Verein dem Senator für Häfen zwischenzeitlich einen Pachtvertrag angeboten. 1.000 Mark wollen die Mitglieder von Kwell monatlich dafür zahlen, daß sie auf dem Grundstück „einen Stadtplatz für Wagen errichten dürfen, der den Bewohnern ein Leben nach der selbstgewählten Form ermöglicht.“ Eine Antwort hat der Verein noch nicht bekommen. „Aber das kann auch an der Post liegen. Die stellt unsere Briefe hier nicht zu“, klagt Kwell-Mitglied Olaf Kawallek (26) während er auf einem ausrangierten Campingstuhl mit vier anderen Vereinsmitgliedern vor seinem Bauwagen am Feuer sitzt und seinem Hund Derrick das Fell krault. „Ja, ja, Du trauerst um Deinen toten Sohn“, sagt er zu dem Mischlingsrüden und deutet mit dem Kopf in Richtung eines weißen Plastik-Sacks, der vor einem Bauwagen liegt. Der Kopf eines Hundes ragt aus dem Sack. Seine stumpfen Augen sind halbgeschlossen. „Ein Lastwagen hat ihn überfahren. Vor einer Woche.“ Olaf Kawallek schweigt. „Personal ohne ständige Tätigkeit: die POST“, preßt er hervor. „Unsere Briefe können sie nicht zustellen. Aber meinen Hund überfahren.“

Wie die anderen Kwell-Mitglieder gehört Olaf Kawallek zu den letzten Weidedamm-Besetzern. Etwa 200 Männer und Frauen lebten zuletzt auf dem ehemaligen Parzellengebiet am Findorfer Weidedamm und versuchten in einer Bauwagenkolone ihre Vorstellungen von einem „Öko-Wohnprojekt“ zu verwirklichen. Im Herbst letzten Jahres räumten sie das Gelände nach einem jahrelangen Streit mit der Stadt, die auf dem 200.000 Quadratmeter großen Grundstück Reihenhäuser und Eigentumswohnungen bauen will. Etwa 50 Weidedämmler schlossen einen Vertrag mit der Stadt und durften sich auf einem Friedhofsgelände an der Lesum in Bremen-Nord niederlassen. Die meisten Weidedämmler zogen aus Bremen weg. „Viele sind mit ihren Wagen auf Privatgrundstücken untergekommen“, weiß Olaf Kawallek. „Wir sind die, die nichts abbekommen haben.“

Von dem Angebot der Stadt, ihnen Wohnungen zu beschaffen, wollen die Kwell-Mitglieder nichts hören. „Ich könnte in keine Wohnung mehr ziehen. Da werd' ich depressiv. Ich schalt' nur die Glotze und den Computer ein und krieg' nichts mehr auf die Reihe“, sagt Olaf Kawallek. Vor zweieinhalb Jahren sei er mit seiner Computer-Firma pleite gegangen und wegen des Geldes in einen VW-Bus und dann in den Bauwagen gezogen. Doch unabhängig von der Miete würde er nie wieder in eine Wohnung ziehen. „Wände engen ein.“

„Was soll ich denn mit ner' Wohnung?“ fragt auch die 21jährige Petra zurück. „Da häng' ich doch nur ab. Und dann muß man streichen und das Treppenhaus machen. Keine laute Musik ab zehn Uhr abends. Nee, Ich will keine Wohnung.“ „Ein Bauwagen zu haben, ist viel kreativer“, ergänzt „Müsel“ alias Olaf Schindler (26). „Du kannst Dir den Wagen so gestalten wie Du willst. „Die Wohnungen, die wir bisher angeboten bekommen haben, waren zu eng oder scheiße.“

Seit eineinhalb Jahren lebt der ehemalige Student der Sozialpädagogik im Bauwagen. „Hier kannst Du immer zu den anderen gehen und Dir Tabak oder sonstwas ausleihen. Versuch' das mal in einem Ghetto-Wohnblock“, sagt er und läßt den Blick über den Platz schweifen. Die meisten Wagen sehen aus, als könnten sie keine zehn Meter fahren ohne die Reifen zu verlieren. Hier und da steht eine Tür offen, die schief in den Angeln hängt. Ein alter Nähmaschinentisch hat jemandem offenbar als Frühstückstisch gedient. Thermoskanne, Quarkbecher, Nußnugatcreme stehen um die Nähmaschine herum. Im Gestrüpp liegen alte Fahrräder, Zusammengerollte Teppiche, rostige Dosen. Selbst für den campingerprobte Betrachter hat das Gelände eher den Charme eines Schrottplatzes. „Früher hab' ich immer gedacht, Bauwagenbewohner sind Spinner“, gibt David Jany zu. Über der Tür seines Bauwagens hängt ein Messingschild mit der Hausnummer „84“. Rechts neben der Tür hat der 1. Vorsitzende von Kwell eine Solarzelle montiert. Knapp 15 Quadratmeter mißt sein Bauwagen. Eine Campingspüle mit Gaskocher und Mini-Kühlschrank reicht ihm als Küche. Ein kleiner Kachelofen sorgt für behagliche Wärme. Neben dem Bett haben ein winziger Schreibtisch, eine Sitzecke und ein schmales Bücherregal Platz. Nur der tägliche Gang zum „Stillen Örtchen“ führt regelmäßig ins Freie. Toiletten gibt es nicht.

Vor zwei Jahren ist David Jany von seiner Ein-Zimmer-Wohnung in der Neustadt in einen Bauwagen gezogen. „Ich konnte die Miete nicht mehr zahlen und mußte raus. Immer noch besser als die Parkbank oder das Obdachlosenheim.“ Doch mittlerweile ist für ihn aus der Not eine Tugend geworden. „Ich brauche keine Wohnung mehr. Es ist einfach herrlich, wenn man morgens die Tür aufmacht und mitten in der freien Natur steht.“ Deshalb würde er sich am liebsten auch unter freiem Himmel selbständig machen. „Ich habe drei Berufe: Eisenwarenverkäufer, Funkelektroniker und Kraftfahrzeug-Mechaniker. Wenn wir einen festen Platz hätten, würde ich mir noch einen Bauwagen als Werkstatt fertigmachen und sofort anfangen zu arbeiten. Alles was wir wollen, ist ein Platz, auf dem wir mit unseren bescheidenen Mitteln leben können wie wir wollen. Ist das denn so schwer zu verstehen?“

Kerstin Schneider

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