Kein Bohnenkaffee für die Aktivisten

Dialektische Fragmente: Frank Castorf setzte seine Trilogie „zur deutschen Alltagsgeschichte“ an der Berliner Volksbühne fort und inszenierte als zweiten Teil „Golden fließt der Stahl/Wolokolamsker Chaussee“ von Grünberg/Müller  ■ Von Petra Kohse

Die Wirklichkeit ist eine dreiste Zumutung an das Gedächtnis, das Ganze zu erhalten eine Illusion. Im Alltag ist man schon dankbar, wenn sich über sogenannte Gefühle wenigstens Details rekonstruieren lassen. Ähnlich fragmentarisch, wenn auch mit anderen Vorzeichen, funktioniert das Theater von Frank Castorf. Eine Geschichte wird nicht linear erzählt und irgendwie heutig gedeutet, sondern vermittelt sich erst durch die intellektuellen und emotionalen Assoziationen, die der Regisseur und die Darsteller dabei haben.

In seiner neuesten Inszenierung an der Volksbühne blickt Castorf zurück in die Aufbaujahre der DDR. Karl Grünbergs Aktivistendrama „Golden fließt der Stahl“ versteht er dabei als Spionage-Klamotte und versetzt es mit Passagen aus Heiner Müllers Wolokolamsker-Stücken, aus seinem „Bau“, O-Tönen aus Jim Jarmuschs Film „Dead Man“ sowie diversen musikalischen Einlagen (Dramaturgie: Matthias Lilienthal). Eine Art Hypertextversion des Grünberg- Stückes, wobei die kommentierenden Elemente, die auf Stichworte hin quasi angeklickt werden, selbst nur Material sind, das wiederum vom Stück aus kommentiert wird.

Das 1950 in Nordhausen uraufgeführte „Stahl“-Stück handelt von der Belegschaft eines volkseigenen Stahlwerks. Ein Ingenieur ist verschwunden. Daß er sich in den Westen abgesetzt hat, wollen einige der Arbeiter nicht glauben, zumal die Sabotageakte im Betrieb, für die er verantwortlich gewesen sein soll, weitergehen. Auf eigene Faust beginnen sie zu recherchieren, und siehe: Der Ingenieur wurde in einen Schmelzofen gestürzt, und am Ende ereilt den Schuldigen die gerechte Strafe.

Schon die Eingangsszene im Wellblechverschlag von Bert Neumann wirkt wie eine Parodie des Westberliner Nachkriegskabaretts „Die Insulaner“ auf eine VEB- Versammlung: Das blondperückte Putzfrauenkollektiv Schreivogel (Hildegard Alex, Annekathrin Bürger, Karin Ugowski) keift den ewig meckernden Werkstattschreiber Fiehmlich (Bodo Krämer) an, der FDJ-Schlosserlehrling Fritz (Jürgen Rothert) steht beim Sprechen stramm, und alle haben rote Apfelbäckchen und sehnen sich nach Bohnenkaffee statt Muckefuck.

Da legt die Schrottarbeiterin Minna (Heide Kipp) lachend eine Granate auf den Tisch, die sie auf dem Werksgelände gefunden hat. Stichwort: Krieg. Noch immer prustend beginnt Minna Müller zu rezitieren, „Wolokolamsker Chaussee I“: „Wir lagen zwischen Moskau und Berlin...“ Die anderen sitzen gelangweilt daneben. Als Minna in einen getragenen Ton wechselt, stehen sie auf, sagen „Müller!“ und verlassen im Gänsemarsch die Bühne. Hinten stimmen sie dann „Das Wandern ist des Müllers Lust“ an, kommen wieder herein, und das so lange, bis Minna den Mund hält.

Auch später wabern Müllers Verse aus den 80ern, in denen parabelhaft eine vage Hoffnung auf die Reformierbarkeit des Sowjetsystems zum Ausdruck kommt, immer wieder über die Bühne. Wobei Castorf sowohl diese als auch das Grünberg-Stück mit Fenster-Prospekten konfrontiert, die die Bauarbeiten in der Stalinallee 1953 darstellen könnten. Auch sonst gibt es reichlich Bilder und Bezüge, sei es, daß die Schreivögel unter einer Sprenkleranlage zusammenbrechen, als sich zwei Genossen als ehemalige KZ-Häftlinge erkennen, oder daß die motivierte Belegschaft (Stichwort: Arbeit) an die Rampe tritt und einen Song von Fluchtweg gröhlt: „Ich bin ein arbeitsscheuer Ostler / Und das ist mir nicht peinlich... Ich bin frei und ostgeboren / Und das noch nicht mal heimlich...“

Castorf spielt mit ideologischen und nostalgischen Versatzstücken, läßt keinen Satz für sich stehen und dabei dennoch allem Recht geschehen. Zu Tangoklängen menschelt es zwischen der Laborantin Eva (Kathrin Angerer) und dem Schmelzer Kilian (Gerd Preusche), mit Neil Youngs „Dead Man“- Soundtrack wird klar: Es geht von Anfang an zu Ende, die Frage ist nur, wann und wie.

Nach dem burlesken Doppel „Pension Schöller: die Schlacht“ ist dies der zweite Teil einer Trilogie „zur deutschen Alltagsgeschichte“. Und wenn da wo ein Happy- End sein sollte, alle in der Ecke liegen und draußen die Flammen lodern, dann erledigt Castorf nebenbei auch das Volksbühnenkult- Image, Ost-Nostalgikern allzu sanft das Haupt zu betten. Was immer die DDR gewesen sein mag, heißt es hier, kann nur bruchstückhaft und dialektisch verstanden werden – oder eben gar nicht.

„Golden fließt der Stahl/Wolokolamsker Chaussee“ von Grünberg/ Müller. Regie: Frank Castorf, Volksbühne Berlin

„Was haben wir noch mal im Martin-Gropius-Bau gesehen? War das die Ausstellung mit den Skulpturen?“ – „Skulpturen?“ – „Da mußtest du doch so kichern, richtig gegiggert hast du.“ – „Ja, gegiggert. (Pause) Aber war das im Martin-Gropius-Bau?“ – „Im Zeughaus war auf jeden Fall die schlechte Führung. Da haben wir uns gelangweilt und sind eher gegangen.“ – „Ja, das war im Zeughaus.“ (Ein Pärchen am Karfreitag in der Berliner U-Bahn-Linie 2)