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■ WarschauBären in Polens Hauptstadt?

„Bist du wahnsinnig geworden? Was willst du denn im Osten? Sozialismus kennenlernen? Du hast doch 'ne Meise! Wer fährt schon nach Polen? Da gibt es doch nichts zu essen!“ Ich hatte meinem Vater eröffnet, daß ich demnächst „rübermachen“ würde, so wie er es mir in unseren Sozialismusdebatten ans Herz gelegt hatte. „Wenn's dir hier nicht paßt, dann geh doch rüber.“ Eigentlich gar nicht so blöd, dämmerte mir irgendwann. Schließlich konnte ich schlecht für eine Weltanschauung plädieren, wenn ich vom „realen Sozialismus“ keine Ahnung hatte. Das war vor zehn Jahren.

Osteuropa lag in der Vorstellung der meisten Westeuropäer kurz vor Asien. Polen war ein ganz besonders „unbekannter Nachbar“. Der Regierungschef war ein Kuschelkumpel von Breschnew, die Arbeiter rannten permanent mit dem gekreuzigten Jesus durch die Gegend, Frauen standen bevorzugt in kilometerlangen Schlangen, und in den Läden gab es außer Essig und Fischkonserven nichts zu kaufen. Entweder, dachte ich mir, sind diese Polen völlig gaga, oder das System ist im Eimer. Das wollte ich mir ansehen.

Im Juni 1985 stand ich zum erstenmal auf dem großen Marktplatz in Krakau und bekam den Mund nicht mehr zu. Das war kein Vorort von Asien, ich war mitten in Europa. „Wie Florenz“, dachte ich, und: „Wieso weiß ich das denn nicht?“ Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der „Eiserne Vorhang“ fiel, hatte „der Westen“ seine östlichen Nachbarn vergessen. Hinter dem Vorhang aber bestanden die Polen darauf, weiterhin egoistisch sein zu dürfen, zu denken, was der Zensor verbot, und Lust auf Luxus zu haben. Sie genossen es geradezu, das System ad absurdum zu führen.

Heute, gut zehn Jahre später, ist mein Europabild wieder ein völlig neues. Polen gehört ganz selbstverständlich dazu, außerdem Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Slowenien und das Baltikum. Doch die Briefe meines Vaters klingen, als sei die Zeit stehengeblieben, so als könne er nicht fassen, daß die Bären die Hauptstadt bereits vor einigen Jahrhunderten verlassen haben und jetzt lila Landrover der letzte Schrei auf Warschaus Straßen sind.Gabriele Lesser

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