Nebenhoden – Farbe Schimmelgrau

Im Dresdner Hygiene-Museum ist der Kalte Krieg noch präsent. Lehrmittelwerkstatt beliefert japanische und US-amerikanische Universitäten mit menschlichen Torsi und lebensechten Innereien  ■ Von Claudia Becker

Auf der rot-weiß karierten Tischdecke sind sie wie delikate Häppchen aufgereiht: Leber und Niere glänzen im Sonnenlicht. So still ist es in der Stube, daß man die Pinselstriche zu hören glaubt, mit denen die fünf Frauen dunkelrote Acrylfarbe auf die Organe auftragen. Blau zeichnen sie die Blutgefäße in den Gehirnhälften nach, markieren mit feinstem Pinsel Pupillen schwarz. Die Farbgläschen stehen ordentlich in einem Regalschrank. Neben „Nebenhoden, schimmelgrau“ klemmt eine Grußpostkarte aus Llorett de Mar. Die Arbeiterinnen der Dresdner Lehrmittelfabrik im Deutschen Hygiene-Museum lassen sich den Appetit jedenfalls nicht verderben. In der Mittagspause packen sie ihre Leberwurststullen aus der Tupper- Dose und haben einen guten Hunger. Manche von ihnen präparieren schon seit dreißig Jahren wie Frankensteins Gehilfinnen Innereien. Glück gehabt! Denn von den ehemals achtzig Kolleginnen und Kollegen hat der Hamburger Lehrmittelhersteller Binhold, der die Fabrik 1990 übernommen hat, nur die Hälfte weiterbeschäftigt.

Bis dahin war die Produktionsstätte dem Museum angeschlossen, das der Industrielle Karl Lingner einst gegründet hat. Lingner, der bereits 1911 mit großem Besuchererfolg die I.Internationale Hygiene-Ausstellung in der Sachsenmetropole ins Leben gerufen hatte, wollte ein Ausstellungsforum zur gesundheitlichen Volksaufklärung einrichten. Im Mittelpunkt sollte der Mensch im Verhältnis zu seinem Körper und seiner Umwelt stehen.

Der menschliche Körper hatte es Lingner angetan. Denn der Odol-Fabrikant war nicht nur der Erfinder des „sympathischen Atems“, sondern auch Entwickler eines Gesellschaftsmodells. Das sollte sich an der Organisation des menschlichen Organismus orientieren und trug bereits sechs Jahre vor dem Sturz der deutschen Monarchie durchaus demokratische Züge. Ebenso innovativ war der Gedanke, der hinter der Gründung seiner „Lehrwerkstätten des Deutschen Hygiene-Museums GmbH“ im Jahre 1912 stand. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von humanbiologischem Lehrmaterial und Ausstellungsstücken wollte er die finanzielle Basis für die Errichtung des Museums schaffen.

Im selben Jahr eröffnete die Dauerausstellung „Der Mensch“. Lehrtafeln, medizinische Geräte und Nachbildungen von Körperteilen informierten über Aufbau und Funktion des menschlichen Körpers. Bis zur Grundsteinlegung des Museums sollte es noch fünfzehn Jahre dauern. Der Bau begann 1927, elf Jahre nach Lingners Tod. Acht Jahre später wurde es von den Nationalsozialisten vereinnahmt. Unter ihrem Kommando mußten die „nichtarischen“ und politisch unliebsamen MitarbeiterInnen gehen. Rasseforscher pervertierten die Gesundheitsaufklärung in die Lehre vom „gesunden Volkskörper“, der Maßnahmen wie der Eugenik und der Euthanasie zu seiner Genesung bedürfe. Auch die Lehrmittelfabrik stellte sich in den Dienst des NS-Staates. „Laienhilfe bei Kampfstoffschädigungen“ hieß die Unterrichtssammlung, die in den dreißiger Jahren die Werkstatt verließ. Daneben entstanden Wundmarkierungsmoulagen: naturgetreue Nachbildungen typischer Kriegsverletzungen, mit einem Gipsabdruck von Verwundeten abgeformt und in Pappmaché ausgegossen. Diese Verletzungsattrappen legten sich die Übungsopfer bei Sanitätsmanövern an.

Auch nach 1945 dienten die Produkte der Lehrmittelwerkstatt wieder dem Militär. Um Nationale Volksarmee, Volkspolizei und Zivilbevölkerung während des Kalten Krieges auf Auseinandersetzungen mit dem Westen vorzubereiten, entstanden in der Moulagenproduktion Wachsnachbildungen von Verletzungen, die durch Kampfstoffeinwirkungen auf der Haut entstehen. Als Vorlage diente der „Leitfaden der Pathologie und Therapie der Kampfgaserkrankungen“ von Otto Muntsch, im Dritten Reich Fachberater des Hygiene-Museums.

Die Lehrmittelwerkstatt stellte die Moulagenproduktion erst 1990 ein. Die Gipsformen und Arbeitsmuster aus der Vergangenheit sind aufbewahrt worden und zeugen nicht nur von Kriegsverletzungen, sondern auch von in Europa längst ausgestorbenen Seuchen. Die ehemalige „Mouleuse“ Elfriede Walther-Hecker erklärt heute MuseumsbesucherInnen ihren ehemaligen Arbeitsplatz.

Mit der Herstellung von Knochen und Organen für den Lehrbetrieb hat das Museum seit der Privatisierung gar nichts mehr zu tun. Die Firma Binhold übernahm allerdings verwirrenderweise das Museumslogo für ihren Produktionsbetrieb: ein geöffnetes menschliches Auge, eingerahmt von dem Schriftzug „Deutsches Hygiene-Museum Dresden“. Verständlich, daß die Museumsleitung darüber verärgert ist. Doch der neue Besitzer Binhold ist im Recht, denn mit der Übernahme der Fabrik ging ganz offiziell auch das Markenzeichen an den Hamburger Unternehmer. Museums- und Ausstellungsleiter Klaus Vogel bedauert das heute: „Es ging einfach alles zu schnell.“ Die Vertreter des Museums hätten damals einfach zu spät geschaltet. Froh ist er jedoch über das, was ihm erhalten blieb: den „gläsernen Menschen“, eine lebensgroße, durchsichtige Cellonfigur in jeweils weiblicher und männlicher Ausführung, die im Innern den Blick auf künstliche Knochen, Organe und Gefäße freigibt. Eine solche Figur wurde zum erstenmal 1928 nach neunmonatiger Handarbeit fertiggestellt. Den Kunstmenschen, wie auch die „gläserne Kuh“ und das „gläserne Pferd“, darf nur das Museum anfertigen.

Die Firma Binhold, weltweit Marktführerin im Lehrmittelbereich, produziert dafür eine Reihe anderer Skurrilitäten: einen Knochenmann mit Walkman für US- amerikanische MedizinstudentInnen, geschlechtslose Torsi für die Hörsäle fundamental-islamischer Staaten, Männercorpi mit asiatischer Penislänge für Japan.

Die einzelnen Teile, aus denen die Figuren zusammengesetzt sind, werden zuerst aus Kunststoff gegossen. Die ArbeiterInnen spritzen oder drücken eine farblose Kunststoffmasse in eine metallene Gußform, die bei 220 Grad Hitze in einem Ofen so lange geschleudert wird, bis die Masse geliert. Mit Wasser und Preßluft werden dann die so gebackenen Milzen, Mägen und Wurmfortsätze abgekühlt. Dann kommen sie zur nächsten Station. Der Schleifer fräst, eingehüllt in Kunststoffstaub und Wolken scharfen Chemiegestanks, die scharfen Kanten der Formgüsse ab, ehe die Schädeldecken, Kieferknochen und Innereien zusammengefügt werden. Nebenan gehen sie danach noch einmal durch die Hände einer Arbeiterin, die die Oberflächen mit einem feinen Schleifgerät lebensecht glättet.

Die Feinarbeit machen hier die Frauen. Achtzig Prozent der Belegschaft sind weiblich, denn ruhige Hände sind an den meisten Arbeitsplätzen gefragt. Auch die Betriebsleiterin ist eine Frau: Jutta Jähnichen gehört zur „alten Garde“. Vor dem Anschluß an das westdeutsche Unternehmen war sie für den Vertrieb zuständig.

Der Rundgang endet, wo er angefangen hat. In der Malstube. Die vollständig eingefärbten und zusammengesetzten Torsi stehen da und glotzen wie unbeteiligt in die Runde. Ungeachtet dessen, daß alle Welt die grauen Gedärme in ihren aufgeschlitzten Bäuchen begutachten kann. Eine Arbeiterin versieht gerade einen Feuersalamander mit giftig-gelben Flecken. Margot Honecker hatte das Tier einst für den Biologieunterricht ihrer Jungen Pioniere kreiert. Heute können ihn auch die GrundschullehrerInnen in Berg- Kamen als Beispiel für eine vom Aussterben bedrohte Amphibie vorführen. Das linke Bein lässig angewinkelt, wartet währenddessen ein Plastemann mit freigelegten Muskeln darauf, daß ihm die zuständige Arbeiterin den angespannten Bizeps nachzeichnet. Die ist allerdings noch mit Schritt neun des Arbeitsablaufs Bauchspeicheldrüse beschäftigt: Blutpunkte malen. Mittlerweile ist es auch nicht mehr ganz so leise in der Stube der Malerinnen. Aus einem altmodischen Radiogerät, Marke „Undine II“, plärrt eine Frauenstimme: „Ich liebe dich, nur dich...“. Die Arbeiterin am Fenster summt mit, während sie dem Torso auf ihrem Schoß das Zahnfleisch bepinselt. Die feuchte Farbe sieht aus wie Pflaumenmus. Zum Reinbeißen.