In der Wittstock-Ruppiner Heide (Brandenburg) fand am Sonntag mit rund 6.000 Teilnehmern der größte Ostermarsch der Friedensbewegung statt. Fast 30 Jahre lang terrorisierten Flugzeuge der Roten Armee die Menschen. Seit 4 Jahren wehren die sich gegen die Pläne der Bundeswehr, hier den größten Bombenabwurfplatz Europas einzurichten. Aus Wittstock Christoph Seils

Zählappell gegen das Bombodrom

Die kleine Kirche von Fretzdorf hat schon bessere Zeiten gesehen. Das Fachwerk ist brüchig, auf dem Dach hat sich Moos zwischen den Ziegeln breitgemacht. Seit über 35 Jahren jedoch trotzt die Kirche den Düsenjägern, die sich über ihr zum Tiefflug senken. Bis auf 75 Meter gehen sie herunter über dem wenige Kilometer entfernten „Luftbodenschießplatz Wittstock“, damit die Piloten den Abwurf von Bomben üben können.

Auch dem Knall, mit dem die Flugzeuge auf ihrem Rückflug die Schallmauer durchbrechen, hat sie standhalten können. Die Bewohner der Region allerdings haben seit langem genug von dem ständigen Lärm. Am Sonntag war die Kirche des kleinen Dorfes, das im Norden Brandenburgs am Tor zur Mecklenburgischen Seenplatte liegt, Treffpunkt für an die 6.000 Ostermarschierer. Unter dem Motto „Den Himmel über uns dem Brandenburger Adler“ protestierten sie gegen die Pläne der Bundeswehr, das ehemalige Bombodrom der Roten Armee zum größten Bombenabwurfplatz Europas auszubauen.

„Hier fand schon in den letzten beiden Jahren die größte Einzelveranstaltung der traditionellen Ostermärsche statt.“ Mit diesen Worten begrüßt Pfarrer Reinhard Lampe stolz die Friedensfreunde. Im nahen Berlin ist in diesem Jahr der Zählappell der Friedensbewegung zum ersten Mal ausgefallen. Nachdem im vergangenen Jahr nur noch wenige hundert Ostermarschierer zusammengekommen waren, hatte die Berliner Friedenskoordination dazu aufgerufen, sich an dem Ostermarsch in der Wittstock-Ruppiner Heide, knapp hundert Kilometer nördlich von Berlin gelegen, zu beteiligen.

Doch nur wenige Berliner nutzen die Gelegenheit, den Ostermarsch mit einem Ausflug ins Umland zu verbinden. Ganz überwiegend sind es die Menschen der Region, die sich hier gegen die Bundeswehrpläne wehren. Hier gibt es sie noch, die Widerstandskultur, die im Westdeutschland der achtziger Jahre die Friedensbewegung stark gemacht hat: Pastoren, die Demos anführen; Bäckermeister, die Kuchen spendieren; Bauern, die ihre Äcker als Parkplatz zur Verfügung stellen; Großstädter, die sich auf dem Lande niedergelassen haben und den Einheimischen nun die Kultur des zivilen Ungehorsams erklären.

Einmal im Monat treffen sich die Mitglieder der Bürgerinitiative FREIe HEIDe zum Protestmarsch, an diesem Ostersonntag ist es der 35. Überall in den Dörfern der Region sieht man an den Häuserwänden die Düsenjäger- Silhouetten, die mit roter Farbe durchgestrichen sind. Selbst in den Bürgermeisterämtern hängen die Plakate der Bürgerinitiative. 6.000 Einwohner in den Dörfern rund um den 142 Quadratmeter großen militärischen Sicherheitsbereich sind dem Lärm der tieffliegenden Düsenjäger ausgesetzt. Rund 30.000 Menschen sind insgesamt davon betroffen.

Die Ablehnung der Pläne der Bundeswehr, die die strukturschwache Region mit Investitionen in Höhe von 300 Millionen Mark ködert, ist überwältigend. Selbst die Brandenburger Landesregierung steht hinter der Bürgerinitiative. Nachdem Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) in den vergangenen Jahren immer betont hatte, er nehme als Privatperson am Wittstocker Ostermarsch teil, schickte die Landesregierung in diesem Jahr ihren Umweltminister Matthias Platzek in offizieller Mission. Gerade angesichts der Tatsache, daß mit dem Morden im ehemaligen Jugoslawien der Krieg nach Europa zurückgekehrt sei, so erklärt Platzek den Kundgebungsteilnehmern, dürfe sich das Denken, nach dem der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, nicht wieder durchsetzen.

Die Bürgerinitiative FREIe HEIDe hat die Hamburger Theologin Dorothee Sölle eingeladen, die Hauptrede zu halten. In die Jahre gekommen ist sie, die Friedensaktivistin, aber kämpferisch wie eh und je. Die Heide dürfe nicht zum Testgebiet einer schnellen Eingreiftruppe der Bundeswehr werden, ruft sie ins Mikrophon. Doch die Menschen hier interessieren nicht die „imperialistischen Interessen der Nato“, sie kümmert ihr eigenes Schicksal. Fast dreißig Jahre lang wurden sie Tag und Nacht von den sowjetischen Kampfflugzeugen terrorisiert. Nur drei Jahre herrschte hier Frieden – nach dem Ende des Kalten Krieges.

Seit Ende 1993 fliegt die Bundeswehr ihre Einsätze. Bomben werden derzeit nicht abgeworfen, dazu müßte erst eine Zielvorrichtung gebaut werden. Dennoch werden bereits 150 Einsätze im Jahr simuliert. 3.000 sollen es werden, wenn die Bundeswehr ihre Pläne verwirklicht hat. Jeder Einsatz bedeutet, daß Verbände von bis zu vier Flugzeugen im Anflug etwa aus Bayern oder Schleswig- Holstein bis zu dreißigmal über dem Gelände niedergehen, um den Abwurf von Bomben zu üben. Eine Reihe von Zugeständnissen hat das Bonner Verteidigungsministerium allerdings bereits gemacht. Nur mit Bombenattrappen soll trainiert werden. Und auf die zusätzliche Einrichtung von Panzerschießbahnen wurde verzichtet.

Bevor die Bundeswehr mit dem Ausbau des Bombodroms beginnt, hat sie zugesichert, eine Entscheidung des Potsdamer Verwaltungsgerichts abzuwarten. Auf das Urteil, das bereits am 9. Mai 96 gefällt werden könnte, setzt auch die Bürgerinitiative große Hoffnungen. Das Verwaltungsgericht muß über die Klage zahlreicher Gemeinden des Landkreises Ostprignitz-Ruppin auf Herausgabe der Wege entscheiden, die über den Truppenübungsplatz führen. Gemäß dem Einigungsvertrag gehören sie den angrenzenden Gemeinden; die Oberfinanzdirektion Cottbus hat sie in einigen Fällen bereits zugewiesen. Aber die Bundeswehr weigert sich, sie herauszugeben. Schließlich kann sie ihre militärischen Pläne dann erst einmal vergessen.

Mit den wiedergewonnenen Wegen zwischen den Gemeinden soll die Region für den Tourismus erschlossen werden. Viele Pläne liegen bereits in den Schubladen. Das Schlüsselwort „sanfter Tourismus“ führen die Menschen hier im Munde. Die gestreßten Großstädter sollen kommen, sich beim Reiten, Schwimmen oder Paddeln erholen und den Leuten hier Arbeit verschaffen.

Auf jeden, der hier noch Arbeit hat, so lautet die ständige Klage, kommen ein Heranwachsender, ein Rentner bzw. Vorruheständler und ein Arbeitsloser. Mit dem Tourismus soll es in der Region wieder aufwärtsgehen.