Bleu de mon rêve Von Carola Rönneburg

Im Alter von zehn Jahren führte ich ein Tagebuch mit Zierschloß und rotem Wolleinband. Da auf dem Umschlag kein Aufdruck wie „Sehr privat“ oder „Streng geheim“ zu finden war, notierte ich auf der ersten Seite: „Wer das außer mir liest, ist gemein.“ Meine erste Eintragung war eine Auflistung von Geburtstagsgeschenken. Außerdem hoffte ich auf gutes Wetter für den Klassenausflug.

Als ich das Buch Jahre später in einer Kiste wiederentdeckte, stieß ich nicht nur auf diese Harmlosigkeiten, sondern auch auf die detaillierte Beschreibung meiner ersten Begegnung mit meinem langjährigen Schulschwarm. „Heute habe ich Jens kennengelernt“, hatte ich geschrieben. „Er sieht ungefähr so aus“ – unter dieser Überschrift hatte ich eine höchst holprige Kugelschreiberzeichnung angefertigt, die mich heute an eine gewisse Froschzeichnung eines gewissen Wuppertaler Illustrators erinnert. Was sonst noch über Jens zu lesen war, verrate ich hier natürlich nicht. Denn so sehr ich mich inzwischen freue, diese Chronik meines Lebens als Viertkläßlerin noch zu besitzen, so sehr schäme ich mich nach wie vor dafür.

Glücklicherweise gibt es von diesem Werk keine Kopien – wie auch von den folgenden, weitaus fürchterlicheren Aufzeichnungen der nächsten Jahre. Sämtliche Peinlichkeiten wurden handschriftlich festgehalten bzw. später auf einer Schreibmaschine namens Monika hergestellt. Heutzutage aber ist alles ganz anders, was ich nicht zuletzt durch das Studium unverlangt eingesandter Manuskripte weiß: Der Teenager der 90er Jahre, egal welchen Alters, benutzt einen Computer. Und er hortet seinen Texte nicht auf der Festplatte oder Disketten, sondern schickt sie in die Welt hinaus. So erreichte 1990 bestimmt nicht nur mich, sondern einen Reihe von Redaktionen ein zweiseitiger Auszug aus einem niedersächsischen Tagebuch. Die Autorin behauptete, wir alle müßten doch nun sehr glücklich über den Fall der Mauer sein, erinnerte sich an ihren letzten Berlinbesuch und beschwor die blühenden Birken unter ihrem Berliner Balkon. „Geteilt / und nun in aller Offenheit / und unter meinem Berliner Balkon / blühen die Birken.“ Irgendwo, da bin ich ganz sicher, ist dieses Gedicht inzwischen abgespeichert; wahrscheinlich auf der CD-ROM einer besonders akribisch archivierenden Zeitung, die hierfür extra hundert Chinesen engagiert hat. Wer dann den Suchbegriff „Zuschriften und Birken“ eingibt, kann sich die botanische Botschaft ausdrucken lassen und eines Tages zu Recht gegen die Verfasserin verwenden. Vielleicht erwischt es aber auch zuerst den französischen Ministerpräsidenten, der im zarten Alter von 16 Jahren einige lyrische Zeilen in seiner Schülerzeitung veröffentlichte. Daß Alain Juppé damals unter dem Pseudonym Pierre Odalot dichtete, hat ihm nichts genützt: Seine ergreifende Klage über die Einsamkeit („Bleu de mon rêve, où je régnerai seul ...“) wurde von Chinesen abgetippt und ist nun für jedermann im Internet einsehbar.

Daran sollte also jeder denken, der heute abend seinen Laptop aufschlägt und ihm seine Trauer über die Trennung von Take That anvertraut. Wer in diesem Leben noch etwas vorhat oder hoffen darf, doch noch zur Vernunft zu kommen, bleibt beim guten, alten Tagebuch. Man muß es den Chinesen ja nicht ganz so leichtmachen.