Allah gibt den inneren Frieden

Den inneren Frieden hat Yasar Yildiz erst gefunden, nachdem er arbeitslos wurde. Sicher, als das Kündigungschreiben von der AEG kam, da war er geschockt. Das Kabelwerk in Berlin müsse schließen. Sein Meister sagte, er sei doch sowieso schon so lange krankgeschrieben, diese Knieoperation und der hohe Blutdruck. Wenn er ehrlich wäre, dann müsse er doch einsehen, daß er nicht mehr könne. „Nun, dem hatte ich nichts entgegenzusetzen. Was sollte ich tun? Mir gehörte die Firma doch nicht.“

Müde sitzt der 58jährige am Tisch und rührt in seinem Tee. Er fügte sich, ohne zu klagen; vier Jahre ist das her. Helfen, das wußte er, würde ihm ohnehin nur einer: Allah. Heute steigt Yasar Yildiz um viertel nach vier Uhr die vier Stockwerke seiner Neuköllner Wohnung hinunter, überquert den Karl-Marx-Platz und wirft einen flüchtigen Blick in das Schaufenster mit den Muskelmännern aus Plastik, die für einen „Eiweiß- Energie-Drink“ werben, bevor er rechts am Laden vorbei in die Toreinfahrt biegt.

An dem schmucklosen grauen Quergebäude des Hinterhofs deutet nur ein kleines Metallschild mit einer säuberlich aufgemalten Moschee darauf hin, daß hier ein muslimischer Gebetsraum untergebracht ist. Yasar Yildiz zieht die Schuhe aus und setzt das gehäkelte Gebetskäppi auf. Zum Frühgebet kommen um die zwanzig, mittags sind es schon fünfzig, und manchmal am Abend knien mehr als 200 Männer auf dem Teppichboden des schmalen, langgestreckten Raumes im Parterre.

Früher war er nicht so gläubig. Da stand ja auch die Arbeit im Mittelpunkt seines Lebens. Achtzehn Jahre lang hat er Kabeldrähte mit Gummischläuchen ummantelt, für gut 3.000 Mark im Monat. Heute lebt er mit seiner Frau von 1.180 Mark Arbeitslosenhilfe. Die Wohnung kostet mehr als 800 Mark, und so teilen sie sich die vier Zimmer mit einem der Söhne, dessen Frau und den beiden Enkelkindern.

Heute wird sein Tag eingeteilt durch fünf Gebete, manche zehn, manche zwanzig Minuten lang. Danach sitzt er meist mit den Gemeindebrüdern an einem der blankgescheuerten Biergartentische im Nebenraum. Starken schwarzen Tee trinken sie und bereden das Leben der islamischen Gemeinde. Welcher der türkischen Gemüsehändler braucht eine Hilfe beim Sortieren des Obstes? Wer ist gerade entlassen worden, sitzt depressiv zu Hause und könnte in die Arbeitslosengruppe der Gemeinde kommen? Wem muß man finanziell unter die Arme greifen? Yasar Yildiz macht viele Hausbesuche, bei denen er den Glauben und die Aktivität in der Gemeinde als Gegenmittel zu Frustration, Angst und Arbeitslosigkeit preist. „Wer zu Hause sitzen bleibt, dem steigt die Trauer in den Körper“, sagt er.

Niemand kümmert sich so um die steigende Arbeitslosigkeit unter den Türken wie die islamischen Gemeinden rund um die Moscheen von Kreuzberg und Neukölln. Yildiz und seine Gebetsbrüder, eng mit der islamistischen Wohlfahrtspartei verbunden, sammeln Spenden, um in Not gekommene Brüder zu unterstützen, bieten Koran-Kurse für Männer und Nähstunden für Frauen an. In Spielgruppen wird den Kindern der Koran nahegebracht. So hat sich mittlerweile in Berlins Stadtteilen mit hohem Immigrantenanteil eine Subkultur herausgebildet, die sich von strengen religiösen Regeln leiten läßt. Wohlhabende Gemeindemitglieder zahlen in einen Fonds, der Jüngeren das Startkapital auf dem Weg in die Selbständigkeit vorstreckt. Gemüsegeschäfte, Cafés oder Flickschneidereien werden an Glaubensbrüder verpachtet.

Yasar Yildiz war einer der ersten, die aus der Türkei in die Bundesrepublik kamen. Im Frühjahr 1970 ließ sich der Bauernsohn vom Schwarzen Meer von einem Büro des deutschen Arbeitsamtes in Istanbul anwerben. Die Zähne haben sie ihm nachgezählt und die Lunge geröntgt, bevor er auf die Zugreise nach Bochum ging. Im Kohlebergwerk hat er zwei Jahre geschuftet. Da hat er ein paar Brocken Deutsch gelernt. Als er 1973 nach Berlin kam, brauchte er es nicht mehr. Alle Kollegen bei derAEG waren Türken. Der Vorarbeiter dolmetschte bei Gesprächen im Personalbüro, nur „Guten Morgen“ und „Guten Abend“ mußte er sich merken, für den Meister. Für einen Sprachkursus hat er sich nie interessiert. „Schließlich haben wir immer gedacht, daß es nicht nötig ist, weil wir irgendwann wieder zurückgehen in die Türkei.“

Heute, nach 26 Jahren Deutschland, will er nicht mehr zurück, trotz Arbeitslosigkeit: „In der Türkei bin ich der ,Deutschmann‘. In Berlin fühle ich zwar keine richtige Heimat, aber hier sind meine Kinder und die sechs Enkelkinder. Wo sie sind, gehören auch meine Frau und ich hin.“

Um eine neue Stelle hat sich Yasar Yildiz nicht mehr bemüht. Obwohl er sich gern bei einem Gemüsehändler als Aushilfe verdungen hätte. In seiner Gemeinde gilt die Regel, daß die Älteren den Jüngeren die Jobs lassen. Denn „wer jung arbeitslos wird, geht häufig ins Spielkasino, klaut Autos und trinkt Alkohol.“ Und seine Glaubensbrüder davor zu bewahren ist für ihn eine Verpflichtung vor Allah.