Montag Schokosuppe, Dienstag Milchreis

So ganz recht ist ihr das ja nicht. Was hat sie schon zu zeigen? Eine Winzküche mit weißen Resopalschränken, ein Tisch mit drei Stühlen, ein neues Bad mit blauen Fliesen. Im großen Kinderzimmer ein Doppelstockbett, zwei Schreibtische. Der Eßtisch steht im kleinen Kinderzimmer. Warm wird es nur im Wohnzimmer, wo der Kachelofen sich ausheizt. 63 propper aufgeräumte Quadratmeter mit Blick auf die Wäschestangen im Hof sind für Karin Lindner zu einem Refugium in einer harten Welt geworden.

Sich selbst und ihre drei Söhne bringt sie im Monat mit 2.462 Mark durch. Miete, Versicherung und Kindergarten verschlingen 1.300 Mark. Bleiben 1.162 Mark zum Leben. Vor sechs Jahren, kurz nach der Wende, verlor Karin Lindner ihren Job. Seither hat sie sich und ihre Kinder auf ein Leben im Gleichlauf der Sparsamkeit trainiert. Montag Schokosuppe, Dienstag Milchreis, Mittwoch Kartoffelbrei mit Spinat und Ei, Donnerstag Nudeln in roter Soße, Freitag tiefgekühlte Hähnchenschenkel, Samstag Gemüsesuppe, Sonntag Gulasch. Der ausgetüftelte Speiseplan ist karg.

Karin Lindner will nicht klagen und nicht aufhören zu glauben, daß Fleiß, Erfahrung und Ausdauer in diesem Land belohnt werden. Eine Ewigkeit scheint es her, daß sie Anerkennung im Beruf fand. Damals, vor sechs Jahren, stand sie als „Verkäuferin von Waren des täglichen Bedarfs“ in der Kaufhalle. Sie hatte gerade die Zusatzprüfung zum „Inventurprüfer“ geschafft, als die DDR der Bundesrepublik beitrat. „Ihre Ausbildung wird nicht anerkannt“, bekam sie alsbald zu hören.

Die Katastrophe kündigte sich an, als ihr Mann kurz darauf beschloß, daß eine Ehefrau und drei kleine Kinder zuviel sind für einen Mann, der weiterkommen will im Leben. Er schaffte sich ein Auto an, dazu ein Funktelefon und fuhr aus der Magdeburger Börde gen Westen, wo er als Rechtsanwaltsgehilfe einen Job fand.

Karin Lindner nahm allen Schwung zusammen und meldete sich zur Umschulung als Industriekauffrau an. Im vergangenen Jahr hatte sie Arbeit bei einem Bäcker gefunden, für 1.650 Mark netto. Dafür muße sie sich ungeheuer flexibel zeigen. Morgens rief sie an und fragte, wann sie gebraucht würde. Mal mußte sie um sieben Uhr hin und war um vier zu Hause, mal beorderte der Chef sie für zwei Uhr am Nachmittag. Oft wurde es neun, halb zehn, bis alle Bestellzettel für den nächsten Morgen bearbeitet waren.

An solchen Tagen haben die Kinder sich selbst versorgt. Der 13jährige Tobias hat den fünfjährigen Titus vom Kindergarten abgeholt, das Essen gekocht und zu Bett gebracht. Michael, der elfjährige, ist lieber gleich zu Freunden gegangen. Alles, damit Karin Lindner sich bedingungslos den Wünschen ihres Arbeitgebers anpassen konnte. Es nutzte ihr nichts. Nach drei Monaten war sie den Job wieder los, und der Bäckermeister blieb ihr den Lohn für zwei Monate schuldig.

Karin Lindner klagte das Geld ein, obwohl der Gewerkschaftssekretär sie gewarnt hatte: „Sie wissen, daß sie in diesem kleinen Ort dann keine Arbeit mehr finden werden.“ Den Prozeß gewann sie. Doch die Arbeitswelt ist seitdem für sie zur Fata Morgana geworden. Fünf, sechs Bewerbungen hat sie abgeschickt. „Leider haben wir uns für eine andere Bewerberin entschieden.“ Und bestimmt für keine alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Die Söhne und Freunde versuchen zu trösten. Es sind einfach zu viele, die Arbeit suchen, das ist nicht persönlich gemeint. „Ist es aber doch.“ Karin Lindner glaubt, daß die kapitalistisch-westliche Gesellschaft ihr einfach keine Chance gibt.

Ihre Anflüge von Resignation verarbeitet sie im Unterbewußtsein. Manchmal, beim Aufstehen, hängt ihr der Magen schwer wie ein Ziegelstein im Bauch, würgt ein Brechreiz in der Kehle. „Dann gehe ich zum Kühlschrank und sehe, daß er leergefressen ist.“ Stunden später erinnert sie sich daran, wie sie mitten in der Nacht in die Küche gegangen ist, nur um ein Häppchen zu essen. Nach fünf Monaten Arbeitslosigkeit bringt sie zehn Kilo mehr auf die Waage.

Karin Lindner zählt sich zu denen, „die sich jetzt schwer zurechtfinden“. Aber sie reißt sich zusammen. Achtet auf ihr Äußeres, geht alle sieben Wochen zum Haareschneiden, legt Rouge und Lippenstift auf. Und verweigert die Bearbeiterin auf dem Sozialamt, das neue Biologiebuch für Tobias zu zahlen, „obwohl es uns zusteht“, spart sie sich die 50 Mark buchstäblich vom Mund ab. Dann kommt eine Woche kein frisches Obst und Gemüse auf den Tisch. Bei Aldi kostet die Büchse Mischgemüse 99 Pfennig.

Die alltäglichen Demütigungen brennen sich tief in die Seele ein. „Als Blüm verkündete, die Arbeitslosenhilfe zu kürzen, habe ich geträumt, den Kindern kein Essen mehr kaufen zu können.“ Tage lag der böse Traum über allem. Ging sie einkaufen, sah sie sich als Bettlerin beim Supermarkt vor dem Eingang stehen. „Ich hab mir ausgemalt, was ich auf das Pappschild schreiben soll 'ARBEITSLOS – helfen Sie meinen Kindern!‘“

So gut es geht, versucht sie die Angst in einen schützenden Panzer aus Disziplin und Durchhalteparolen zu zwängen. Durch den die Kinder sich durchfragen. Rufen sie mal frohgelaunt: „Na Mamma, und was hast du heute so gemacht?“, reißt ihr schon mal der Geduldsfaden und sie schlägt mit dem Schlappen zu. Die bittere Wut aber lenkt sie gegen sich selbst. Beinahe jeden Tag vibrieren pochende, bald rasende Nadelstiche durch den Kopf. Migräne. Die bekämpft sie mit Schmerzmitteln und Antidepressiva. Kurieren könnte sie nur neue Arbeit.