„Nicht zurück zur Bismarckzeit“

■ Der Chef der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Roland Issen, will die Diskussion um die Lohnfortzahlung schleunigst beenden

taz: Der bayerische DGB-Vorsitzende Schösser hat vorgeschlagen, auf die Anrechnung der Überstunden für die Lohnfortzahlung zu verzichten.

Roland Issen: Wir sind nicht bereit zuzulassen, daß irgend jemand an der Lohnfortzahlung rüttelt. Sie hat sich bewährt.

Wird es jetzt einen Konflikt innerhalb der Gewerkschaften geben?

Auch IG-Metall-Chef Klaus Zwickel hat diesen Plänen eine klare Absage erteilt. Ich gehe davon aus: Die Gewerkschaft, die die Lohnfortzahlung vor vierzig Jahren in einem sechzehnwöchigen Arbeitskampf durchgesetzt hat, besitzt so viel Gewicht im DGB, daß diese Diskussion bald zu Ende sein wird.

Schon komisch, daß die Deutschen im europäischen Vergleich so häufig krank werden. Laut Statistik ist der Krankenstand zum Beispiel 70 Prozent höher als bei den Briten.

Zunächst einmal müßte man die Ursachen für die Krankenstände finden. In der Kanzlergesprächsrunde im Januar haben die Gewerkschaften angeboten, eine Arbeitsgruppe zu gründen, die die Gründe klärt. Bisher haben die Arbeitgeber dieses Angebot nicht angenommen. Es gibt keinen Anlaß, da jetzt ins Blaue irgend etwas ändern zu wollen.

Ist es nicht auffällig, daß besonders viele Krankmeldungen auf Montage und Freitage fallen?

Diese Begründung allein zieht nicht: Daß so viele am Montag zum Arzt gehen, liegt ja daran, daß viele schon am Wochenende krank geworden sind. Der Montag steht also für drei Siebtel der Woche. Da wird mit sehr fadenscheinigen Argumenten gearbeitet.

Warum melden sich im öffentlichen Dienst die Angestellten durchschnittlich ein Drittel länger krank als in anderen Branchen?

Das müßten Sie die Arbeitsmediziner fragen. Ich glaube nicht, daß die Arbeitnehmer alle simulieren und die Mediziner aufs Glatteis führen.

Warum sind denn so viele Arbeitnehmer krank?

Die Arbeitsbedingungen bringen heute eine so hohe körperliche und psychische Belastung mit sich, daß viele krank werden. Dazu gehört nicht zuletzt die Angst um den Arbeitsplatz. Leute, die motiviert und mit Freude an die Arbeit gehen, werden auch seltener krank. Da müssen die Arbeitgeber was ändern.

Könnten Sie sich Zugeständnisse in der Lohnfortzahlung vorstellen?

Wir wollen nicht zurückfallen in die Bismarckzeit. Im übrigen haben wir den Arbeitgebern empfohlen, die außergewöhnlich hohe Zahl von Überstunden zu reduzieren und dafür Arbeitslose einzustellen. Dann müßten auch im Krankheitsfall keine Überstunden mehr auf die Lohnfortzahlung angerechnet werden.

Nun denkt ja auch die Bundesregierung über Eingriffe in die Lohnfortzahlung nach.

Wenn der Gesetzgeber jetzt ernsthaft mit dem Gedanken spielt, mit Regelungen zur Lohnfortzahlung in die Tarifautonomie hineinzuregieren, dann würde das einen Verfassungskonflikt heraufbeschwören. Solche Überlegungen sind eine Kriegserklärung an die Gewerkschaften. Interview: Matthias Urbach