Eine Pilgerreise

Arte-Themenabend „Faszination Stalin“: Zur Doku „Die Reise in die Sowjetunion“ (20.45 Uhr)  ■ Von Christian Semler

„Laßt Euch nicht verführen“ – die Warnung des jungen Brecht erscheint dem Publikum unserer Tage reichlich überflüßig, auch und gerade seinem linken Teil. Wir sind wirklich unempfindlich geworden gegenüber dem Zauber jedweder Verheißung. Und die älteren unter der linken Spezies verstehen schon selbst nicht mehr, wie und warum sie einmal der Idee eines neuen, kommunistischen Weltzustandes angehangen haben. Mehr noch: wie sie im Ernst glauben konnten, daß diese Idee bereits auf dem Sprung sei, Wirklichkeit zu werden. Es hat nie an Versuchen gefehlt, die Mitwelt über den Sog der Utopie in unserem Jahrhundert aufzuklären. Daß solche Versuche an den Gläubigen abprallten, hängt nicht nur mit dem elementaren Bedürfnis, zu glauben, zusammen, sondern mit der vermeintlichen „Verwirklichung“ dieses Glaubens: mit der „konkreten Utopie“.

In ihrer Dokumentation „Die Reise in die Sowjetunion“ dient den Filmemachern Beate Schönfeld und Martin Kreutzberg die Pilgerreise westlicher revolutionärer Intellektueller zum ersten Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller 1934 als Anlaß, sich in der schwierigen Kunst des „Verstehens“ zu üben. Zur Verfügung stand dem Autor das Filmmaterial über den Kongreß selbst, Wochenschau-Berichte über den sozialistischen Aufbau, Interviews mit Zeitzeugen und reichlich Memoirenliteratur der Akteure. Herausgekommen ist eine intelligente, einfühlsame Rekonstruktion, die allerdings darunter leidet, daß ihr, quasi als Rahmenhandlung, eine Reise ins heutige Rußland beigegeben wurde. Nichts dagegen, daß die damaligen Orte der Handlung, zu sehen sind – beispielsweise das Nobelhotel, in dem die westlichen Gäste 1934 logierten, in seinem erneuerten Glanz. Aber die „zweite Reise“ der Filmemacher mündet in einer allzu trivialen Botschaft: Wo früher Glaube und Hoffnung herrschten, triumphiert heute Desillusionierung und Verzweiflung. Die Last von 70 Jahren Realsozialismus wäre ein eigenes, schwieriges Thema gewesen. Es wurde in der „Rahmenhandlung“ zu einem Stück städtischer Elendsfolklore heruntergebracht.

Den Schriftstellerkongreß vom Sommer 1934 als Anschauungsmaterial für kommunistischen Polittourismus zu nehmen, erwies sich als überaus glückliche Wahl. Damals schien es so, als ob der Schrecken der Kollektivierung ein Ende gefunden, es schien so, als ob der sozialistische Aufbau eine Welle des Enthusiasmus ausgelöst hätte. Es schien so, als ob die Arbeitslager sich leerten. Es schien so, als ob die innerparteiliche Opposition der 20er Jahre (mit der großen Ausnahme Trotzkis) wieder in der Partei mitarbeiten könnte. Den Schriftstellern erschien es insbesondere so, als ob mit der Gründung des allrussischen Verbandes dem Treiben der exzentrischen Linksdogmatiker der Rapp, der Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller, ein Ende gesetzt worden wäre. Das Postulat des „sozialistischen Realismus“ schreckte die Kongreßteilnehmer nicht besonders. Man muß nur in Issak Babels Briefen nachlesen, um zu begreifen, daß es die Poeten nicht als Zumutung empfanden, in die Kohlengruben einzufahren oder auf den Großbaustellen des Landes herumzuturnen. Babel war es auch, der auf dem Kongreß die Losung „Trivialität ist Konterrevolution“ ausgab und damit, scheinbar erfolgreich, einer platten Propagandamasche entgegentrat. Freilich wurde die neue Volkstümlichkeit etwas weit getrieben, als Karl Radek in seinem Referat James Joyce bezichtigte, mit einem Mikroskop bewaffnet das Wimmeln der Würmer auf einem Misthaufen zu beobachten. Nach Schönfeld und Kreutzberg traute sich niemand der „Westler“, zu widersprechen. Der Historiker Jean Elleinstein ist anderer Ansicht. Nach ihm wurde diese Einschätzung Radeks kontrovers diskutiert.

1934 war das Jahr der Täuschungen und Selbsttäuschungen. Die neue Linie der Volksfront zeichnete sich ab, die These vom Sozialfaschismus geriet außer Kurs. Endlich hatte der Faschismus ein Gesicht, das von Hitler. Die Antifaschisten aber hatten den ersehnten, gemeinsamen Feind.

In Moskau fühlten sich die Schriftstelller, vor allem die in die Emigration getriebenen, sicher, verstanden, geehrt – vor allem aber gebraucht. In der eindrucksvollsten Dokumentarszene des ganzen Films tritt eine Delegation von Kolchosbauern vor die Versammlung und erklärt: „Ihr kommt ohne uns nicht aus und wir nicht ohne euch!“ Letzlich war es diese Vision der Vereinigung von Geist, Macht und Technik, die Rolle, die das sowjetische System den Dichtern als „Ingenieure der Seele“ zuwies, die das kritische Potential der Pilger aus dem Westen entwaffnete. Angesichts solch großer Perspektiven für sich selbst wollten sie der sowjetischen Wirklichkeit nicht in die Augen sehen.