: Geständnis am Dinner-table
■ Apokalypse und Neurose im amerikanischen Haus: Wie sich "Dead Man Walking" und drei andere Filme der schwarzen Seite der Adoleszenz widmen
In dieser Hinsicht ist Amerika praktisch: Es besteht, so jedenfalls das landläufige Selbstbild, aus lauter einzelnen Häusern mit Gärten. Ob Unglück, Viren oder Extraterrestrische: Entweder gehören sie zur Familie oder jemand hat sie beim Hereinkommen vergessen zu erschießen.
„Pleasures and Terrors of Domestic Comfort“ hieß eine Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art am Anfang dieses Jahrzehnts. Der Kurator hatte festgestellt, daß FotografInnen seit Jahren im häuslichen Leben ein fruchtbares Thema gefunden hatten. Das mag – für Nordamerika – zwei Gründe haben. Erstens: Das Leben ist seit der Güterschwemme der fünfziger Jahre bis hinein in die Unterschichten standardisiert; nicht „gleich“, aber wiedererkennbar. Zweitens: Großgeworden mit Fernsehen und Computerspiel, finden Kinder im Haushalt einen hohen Index von Informationen und von Komplexität – mit dem sie sich einrichten, zum Schrecken der Eltern. Der Haushalt ist also die perfekte Chiffre der kleinen Welt, in der die große Welt als Miniatur auftaucht. Für das Kino hat Spielberg das Geschehen pünktlich erfaßt und ironisiert: Mutter guckt ins Kinderzimmer, wo irgend etwas Ungutes los ist. Langsamer Kameraschwenk über ein Regal voller Stofftiere und Fabelpuppen. Alles in Ordnung. Als Mutter wieder draußen ist, kehrt das Leben in eine der Figuren zurück: E.T.
Sobald die Leute einen Beruf und Kinder haben, gehen sie nicht mehr ins Kino – darüber hat sich immer wieder Nagisa Oshima beschwert, der vor einem Vierteljahrhundert einen großartigen Film über eine vagabundierende Kleinfamilie von Ganoven gemacht hat („Shonen“): Als sie sich mit dem ergaunerten Geld schließlich seßhaft machen und die Kinder vor dem Fernseher hocken tritt die Polizei die Haustür ein und setzt sie alle fest.
Die Familie und das Verbrechen sind ein seltsames Paar, aber im Kino kommen sie gut miteinander aus. Das amerikanische Haus ist die Idylle, an der das Kino partizipiert; das Verbrechen ist der Stoff, der die gemütliche Ausgangslage transformiert. Das Crescendo und die Dissonanzen – Musik, die außerhalb des Kinos nur bedingt akzeptiert ist – illustrieren den Einbruch des anderen. Plötzlich liegt ein blutiger Wagenheber im Kofferraum des Zweitwagens und der Sheriff, den man als Freund kennt, steht vor der Tür.
So beginnt Barbet Schroeders Film „Before and After“, der heute in die Kinos kommt. Der Sheriff fragt nach Jacob, aber Jacob ist verschwunden. Die Situation spaltet die Eltern: Mutter Carolyn imaginiert den Sohn als Opfer eines Verbrechens, Vater Ben stellt sich mit patriarchalem Gestus vor den Sohn als Täter. Er räumt die Indizien in der Garage beiseite.
Nachdem Jacob aufgespürt und festgenommen wird, spiegelt sich die Ungleichheit der Wahrnehmungen und Haltungen in der Kommune: Der Mob will den Wohlstandssprößling als Mörder bis zum St. Nimmerleinstag hinter Gittern sehen, während der findige Anwalt – um keine Silbe verlegen, schneidig, ganz und gar Yale: Alfred Molina – die Fährte auslegt, nach der man auf den Freispruch zusteuern kann. Er besteht darauf, ein Monopol auf die Darstellung der Wirklichkeit zu haben: Er wird, wenn der Prozeßverlauf es erfordert, Jacob als schwachsinnig und sein Opfer als üble Schlampe darstellen.
Edward Furlong als Jacob gibt einen herrlich bleichen, schuldgedrückten Teenager mit dunklen Schatten unter den Augen. Gegen eine schwindelerregend hohe Kaution zunächst auf freiem Fuß, wird sein Geständnis am dinner table in eine Rückblende überführt: Jacob trifft seit längerem heimlich eine Prolofreundin. An jenem Winternachmittag hat er sie abgeholt, sie streiten, sie parken das Auto auf einer Wiese und versuchen sich körperlich zu versöhnen (Blick auf das verschneite Auto von außen). Beim Versuch, das Auto wieder in Gang zu bekommen, bricht wieder der Streit aus; Martha schlägt mit eisernem Gerät knapp an Jacobs Kopf vorbei und Jacob im Gegenschlag trifft. Schöner Positivismus des Kinos: Der Zuschauer weiß genau, was passiert ist.
Jacob ist also nicht der Abgesandte dunkler Mächte, soviel ist klar. Aber er ist ein Magnet für die Projektion, daß das Böse als das unwiderleglich Böse existiert. Setzt der Vater sich durch (Liam Neeson, der mit seinem Verschnitt aus Hybris und Skrupel schon Spielbergs Schindler gegeben hat), wird der völkische Zorn bis zur Wiedereinführung der Todesstrafe in Massachusetts nicht zu beschwichtigen sein. Setzt die Mutter sich durch (Meryl Streep, von verschwindender Normalität), kehrt man zu den Annahmen der zivilen Gesellschaft zurück, ihre Strafe werde über den Bedarf an Sühne nicht hinausgehen. Das Ende des Films bestätigt diese Option.
Die Rahmenkonstruktion der Erzählung gehört Jacobs jüngerer Schwester Judith, die zu Protokoll gibt: Daß es Dinge gebe, die in einer Sekunde hereinbrechen, und die Zeit teile sich in ein „Davor“ und „Danach“ – das Leitmotiv der Plötzlichkeit. Damit stellt sich allerdings unfreiwillig die Frage nach der unmittelbaren Vorgeschichte der Tat, wie und warum eigentlich Jacob in die Gesellschaft des cholerischen Prolomädchens, Martha, geraten ist.
Der Rahmenkommentar durch ein adoleszentes Mädchen aus der Mitte der Familie: Das hat Schroeder übernommen von Martin Scorseses grandiosem „Cape Fear“ (1991). Dort sagt Danielle, bezogen auf den Horror-Rächer, der bei dem Versuch, die Familie auszulöschen, selbst untergeht: „Still, things won't ever be the way they were before he came.“ Was in „Before and After“ als authentische Pubertätsphilosophie daherkommt, meinte in „Cape Fear“, daß das Gegenteil des Gesagten wahr ist: Die Geschichte der Verdrängung gab es in dieser Familie schon vorher, und sie hört auch dann nicht auf, wenn die Apokalypse überstanden ist.
Amerikanische Teenager, behauptete Marshall McLuhan in den sechziger Jahren, werden auf die Lektüre fixiert und von Sexualität ferngehalten; genau dieses Flirren macht ihre Adoleszenz aus. Eine Type wie Juliette Lewis in „Cape Fear“ zeigt brillant die protestantische Obszönität, die ungelenke Sexyness des Teens aus dem amerikanischen Haus. Die Aussicht aus diesem Haus ist mit Verboten verblendet, deren Werkstoff- und Konstruktionsfehler auf den ersten Blick erkennbar sind. Deshalb, weil sie als Verblendete „weiß“, fällt Danielle auf den Verfolger Max Cady (DeNiro) mit der melancholisch-väterlichen Maske hinein, wenn er als Überbringer der Message „Lust = Auflehnung“ seinen abgründigen Auftritt hat.
Insofern ist Scorseses Interpretation des „Cape Fear“-Stoffes listig, als er die Repression der Kleinfamilie (am Idealmodell: Ehepaar mit einer Tochter) freilegt und zeigt, wie interessant im Vergleich der Teufel ist; schließlich aber muß der Teufel untergehen und die Familie – gewissermaßen wieder kenntlich „wie du und ich“ – überlebt als neurotische Entität. Anders gesagt: Der reine Trieb hat seinen einzigen Auftritt in der Gestalt des reinen Bösen. Er bleibt also rätselhaft.
Die amerikanische Jugend ist das Heiligtum der säkularen Gesellschaft und die Familie das Heiligtum der gläubigen. Insofern sind Morde an Kindern und Jugendlichen a priori Politik. Die institutionalisierte Rache ist die Hinrichtung, zu der sich immer wieder Freiwillige melden, die man gar nicht braucht. Von schwer verglasten Besucherkabinen aus können die Angehörigen der Opfer zusehen, wie Verurteilte neuerdings per Injektion von Giftspritzen staatlich getötet werden. Wieso, beobachtete die katholische Schwester Helen Prejean, desinfiziert die Ärztin eigentlich die Armbeuge, in die sie die Nadel (die später an die Giftmaschine angeschlossen wird) einsticht? Infektionsgefahr?
Diese Frage wird sich vielleicht demnächst Damien Echols stellen, ein intelligenter Mann von jetzt wohl 21 Jahren, der in Arkansas zum Tode verurteilt worden ist – in Bill Clintons Staat. Echols ist die zentrale Figur eines zweieinhalbstündigen Dokumentarfilms ohne jeglichen Off-Kommentar, den Joe Berlinger und Bruce Sinofsky um einen Prozeß in West Memphis, Arkansas, gedreht haben. Dort wurden vor drei Jahren in einem Bach, in einem Waldstück an der Bundesstraße 55 gelegen, die Leichen dreier achtjähriger Jungen gefunden, die brutal geschlachtet worden sind. Einem wurde der Penis mit chirurgischem Know-how quasi skalpiert. Am Fundort der Leichen gibt es kein Blut, ein ungelöstes Rätsel in den Prozessen.
Zu großen Teilen ist „Paradise Lost“ die Bestandsaufnahme der begreiflicherweise üblen Stimmung am Ort. Berlinger und Sinofsky („Brother's Keeper“) besuchen sowohl die Eltern der definitiven Opfer wie die Familien der mutmaßlichen Täter. Daraus ergibt sich nichts, was der Logik des dann beginnenden Prozesses aufhelfen würde. Verblüffend ist allerdings, mit welcher Festigkeit die Hinterbliebenen daran glauben, daß die Polizei und Justiz ihnen die tatsächlichen Mörder präsentieren. Der Vater eines der Jungen läßt sich beim Kürbisschießen in der Kiesgrube filmen, das er lautstark als Exekution von Baldwin, Misskelley und Echols ausgibt. Das sind die Jugendlichen, zwischen 16 und 18 bei der Verhaftung, die inzwischen verurteilt sind.
Damien Echols ist der einzige, der – auf den Rat seiner wohlgemuten Anwälte – vor Gericht spricht; ein dicklicher Gruftie (wie Robert Smith von „The Cure“), mit einer versponnenen Neigung zum Satanischen. Er lügt ein bißchen, aber immer geht es um den „Überbau“, seine exotische Lektüre und seinen Hang zur Band
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„Metallica“. Die Filmemacher schaffen es zu zeigen, daß sich in West Memphis etwas zusammenbraut, was darauf hinausläuft, daß nicht die Mörder der Jungen bestraft, sondern die Personifikation des Bösen gesucht wird. Praktischerweise findet es sich auf der schwarzen Seite der Adoleszenz. Echols wird ein Ketzerprozeß gemacht, und er gehört zu den wenigen, die das begreifen.
Auch Tim Robbins Film „Dead Man Walking“ kommt ohne die Chiffre der Jugendlichen nicht aus. In vier oder fünf achronologisch montierten Rückblenden zeigt er, wie zwei Männer mit einer Schrotflinte über ein jugendliches Paar herfallen, das in einem abgelegenen Waldweg geparkt hat. Sie treiben das Paar aus dem Auto, vergewaltigen das Mädchen, erledigen beide mit Kopfschüssen. Robbins zeigt das Geschehen aus mittlerer Distanz, in schwarzweiß, wie aus der Sicht eines gebannten Tiers, das nicht versteht.
Robbins greift zurück auf das Buch von Schwester Helen Prejean, die ihre bizarre Erfahrung als Seelsorgerin im Todestrakt anhand zweier Fälle schildert, die Robbins in seinem Drehbuch überblendet. Seine Figur heißt Matthew Poncelet und wird in schier unglaublicher Dürre und Verhärmtheit gespielt von Sean Penn. Susan Sarandon, mit ihrem mütterlichen Sexappeal, ist Schwester Prejean. Nicht unähnlich dem Doku-Team Berlinger/Sinofsky, sucht Robbins über die Figur Prejean das Umfeld ab und zeigt auf, daß die Hinrichtung, Jahre nach dem Urteil, die emotionale Beteiligung aller, die noch leben, auf sich zieht.
Die Todesstrafe und ihre Ausführung gibt ihre eigenen Definitionen vor. Sie politisiert – so sehr, wie (die tatsächliche) Helen Prejean auf einer Pressekonferenz der vergangenen Berlinale herausstreicht, daß Familien von Opfern über der Frage von „pro“ und „contra“ zerbrechen.
Die Exekution des Vergewaltigers und Mörders eint oder spaltet das amerikanische Haus. Die Eltern der Opfer werden von Robbins bei weitem sympathischer gezeichnet als ihre wirklichen Parallelfiguren in „Paradise Lost“. Das Elternpaar, das geschlossen in der Zuschauerzelle der Exekutionskammer auftaucht, ist zu bedauern. Es ist sein Glaube an die Rache, der es eint. Das andere Elternpaar hat sich über der Frage, ob die Trauer die Exekution des Täters überleben soll, getrennt.
Tim Robbins läßt im Moment des Todes von Matthew Poncelet die Gesichter der getöteten Teenager im Trennglas der Zuschauerzelle erscheinen, „weil ihre Geister dort sind“, wie er in Berlin zu Protokoll gab. Es handelt sich nur um eine einzige Sekunde eines Films, dessen Erzählkraft, durchdrungen von sozialem Wissen und Glauben an die Reste des Sozialen, ansonsten schwer beeindruckend ist.
In dieser Sekunde aber läßt Tim Robbins durchblicken, daß ihn die Todesstrafe als Ersatzreligion eingeholt hat. Die Teenager, um ihren Autosex und um ihr Leben gebracht, haben in der Kammer des kalten Tötens nichts verloren. Ihr Verlust ist mit jedem anderen inkompatibel. Sie sind nicht die Gefangenen des Rachekults, sondern jene, die das amerikanische Haus nie verlassen haben; beerdigt im Schoß der Familie.
Ulf Erdmann Ziegler
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