Moskauer Melderecht annulliert

■ Mit Gebühren für Registrierung wollte sich Moskau sanieren. Das Verfassungsgericht entschied: Der Erlaß ist rechtswidrig

Moskau (taz) – Veronika Kuzyllo mußte fünfzig Minuten lang stehen, um sich das Urteil des Verfassungsgerichtes der Russischen Föderation in ganzer Länge anzuhören. Der Freude der jungen Redakteurin der Moskauer Tageszeitung Kommersant tat dies allerdings keinen Abbruch. In den vorangehenden Monaten hatte sie noch ganz andere Prüfungen durchgestanden. Jetzt bekam sie – als Klägerin – endlich recht. Das Verfassungsgericht entschied, daß sie für die Erlaubnis, in ihrer mühsam ersparten Moskauer Eigentumswohnung zu leben, nicht auch noch eine Summe von umgerechnet 12.000 Mark an die Stadtverwaltung zu zahlen braucht.

Die Idee, von nach Moskau zugezogenen WohnungsbesitzerInnen eine so gepfefferte „Kompensationsgebühr zur Entwicklung der Infrastruktur der Stadt“ zu erheben, mutet auf den ersten Blick wie ein Schildbürgerstreich an. Sie leitet sich aber ab von einer noch aus Zarenzeiten stammenden Institution namens „Propiska“. So hieß bis vor kurzem die Erlaubnis, in bestimmten Städten zu leben. Die Propiska war einer jener Zwecke, die alle Mittel heiligen. Unsummen von Bestechungsgeldern wanderten ihretwegen über den Tisch. Zahlreiche Zweckehen wurden geschlossen. Dem mächtigen Sowjetstaat diente sie als Erpressungsmittel Nummer eins gegenüber unangepaßten Elementen. Am schärfsten gehandhabt wurde sie gegenüber all denen, die aus der Ödnis provinzieller Sümpfe in die Hauptstadt strebten.

Am 1. Februar dieses Jahres wurde die „Propiska“-Regelung von Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow feierlich für null und nichtig erklärt. An ihre Stelle sollte eine einfache melderechtliche Registrierung treten. Es war höchste Zeit, denn schon seit über zwei Jahren bezeichnet die neue Verfassung der Russischen Föderation die freie Wahl des Wohnortes als Grundrecht. Dies ist außerdem eines der Menschenrechte, das Rußland als Voraussetzung für seine Mitgliedschaft im Europarat nachträglich noch realisieren muß. Erste Erfahrungen der RussInnen mit den neuen Gesetzen legen den Schluß nahe, es habe sich im Grunde nichts geändert. Durch Tricks à la „Kompensationsgebühr“ bauten Stadtverwaltungen schon in den letzten beiden Jahren einem zu erwartenden Ansturm vor. Dagegen hat das Verfassungsgericht nun eindeutig entschieden: „Die Registrierung von BürgerInnen an ihrem Wohnort darf nur bestätigenden Charakter tragen.“

Eine heftige Reaktion des temperamentvollen Glatzkopfes Luschkow ließ nicht lange auf sich warten. Anläßlich einer Pressekonferenz am Dienstag bezeichnete er das Urteil als „unreif“ und unkte, es werde zu „Chaos und zum Untergang der Bevölkerung von Moskau“ führen. Soweit werde er es aber nicht kommen lassen: „Uns wird schon etwas einfallen.“ Sollte es sich bei diesem Etwas um den alten Verwaltungserlaß im neuen Schafspelz handeln? In diesem Falle müßten die Mühlen der Gerichtsbarkeit ganz von vorn zu mahlen beginnen.

Daß Luschkow als Folge des Urteils auch eine Stadtstreicher- Invasion in Moskau an die Wand malte, nimmt wunder. Zählen sie doch noch seltener zu den BesitzerInnen von Eigentumswohnungen als der Durchschnitt der heute auf etwa zwölf Millionen geschätzten MoskauerInnen. Von denen leben übrigens drei Millionen hier „einfach so“. Sie klagen nicht erst vor Gericht, sondern halten sich an die russische Volksweisheit: Das Gesetz steht wie ein Pfahl, wenn man es nicht überspringen kann, dann kann man es umgehen. Barbara Kerneck