Die Zeit der österlichen Sendschreiben

Eine vergebliche Operation: Die Sozialdemokratie versucht durch Appelle an das gemeinsame Parteiinteresse, die Reihen der Führer und Provinzfürsten zu schließen  ■ Aus Berlin Christian Semler

Als „Tanz um das vergoldete Ego“ hat Erhard Eppler in seinen soeben erschienen Memoiren die innerparteilichen Auseinandersetzungen in der SPD-Führung gebrandmarkt, die, pünktlich zum Osterfest, jetzt wieder aufbrandeten. Dem alten Parteisoldaten, der sich rühmt, in der Schule Fritz Erlers und Gustav Heinemanns den klaglosen Dienst am Partei-Ganzen erlernt zu haben, bleibt nur - Fassungslosigkeit. Mit biblischen Metaphern und protestantischer Ethik sind in der Tat weder der Stil noch die Inhalte der Polemik erklärbar, die die Krise der Sozialdemokratie begleiten.

Stets hat die SPD von dem Anspruch gelebt, geschlossen ein Reformprojekt zu vertreten. Auf Gedeih und Verderb sind die Sozialdemokraten nicht nur Volkspartei, sondern auch Programmpartei. Die Vision einer friedlichen, gerechten Gesellschaft verträgt sich schlecht mit der Summierung heterogener Gruppeninteressen. Deshalb war es für die Partei nicht Zierat, sondern überlebensnotwendig, ein Programm zu entwickeln, das die „klassischen“ Gerechtigkeitspostulate mit der Forderung, die Industriegesellschaft ökologisch umzubauen, wenigstens im Grundsatz in Übereinstimmung brachte. Dieses Programm wurde, kaum daß es in Berlin beschlossen worden war, von der deutschen Einheit überrollt.

Aber schon zur Zeit ihrer Formulierung war die programmatische Einheit scheinhaft. Ihr wichtigstes Element, ihr Scharnier, die Idee der Gerechtigkeit, blieb blind und unbegriffen. Denn was gerecht ist, erscheint völlig unterschiedlich, je nachdem, ob zum Beispiel die unmittelbare Verteilungsgerechtigkeit für die in Frage steht, die noch Arbeit haben. Oder ob es darum geht, Arbeit gerecht zu verteilen. Oder ob Gerechtigkeit global eingeklagt wird oder ob sie gar gegenüber kommenden Generationen geübt werden soll. Gerechtigkeit ist in den 90er Jahren wieder „in“. Jeder fordert sie. Jede Gruppe meint eine andere.

Statt an gesellschaftlichen Koalitionen zu basteln, innerhalb derer die verschiedenen Gerechtigkeitsvorstellungen wenigstens zeitweilig kompatibel werden, stellt die SPD einfach Gruppeninteressen untereinander, addiert sie und wundert sich dann, daß das Ergebnis nicht plus, sondern minus heißt. Formal hält sie an der Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie fest. Tatsächlich gibt sie der Stimmung in der veröffentlichten Meinung nach, der zufolge ökologische Themen ein Relikt der fetten 80er Jahre seien, dazu bestimmt, den neuen Verteilungskämpfen zum Opfer zu fallen. Aber auch in ihrer Sozialpolitik stellt sie sich nicht der realen Widersprüchlichkeit der Intererssen. Die Mehrheit derer, die in Brot und Arbeit stehen, haben längst begriffen: Der Kampf gegen die größte Ungerechtigkeit, die Massenarbeitslosigkeit, gleicht keinem Nullsummenspiel. Aber statt unterschiedliche Interessen und Gerechtigkeitsvorstellungen um ein Projekt von bedeutsamer Reichweite, wie die generelle Reduzierung der Arbeitszeit, zu bündeln, statt notwendige Einbußen einsichtig zu machen, schürten sozialdemokratische Politiker mit Oskar Lafontaine an der Spitze in den letzten Landtagswahlkämpfen Ängste vor dem „Euro“ und vor der „Welle“ der Umsiedler aus dem Osten. Wer ökologisch denkt, wählte deshalb gleich die Grünen, während große Teile der „klassischen“ Stammwähler, der Industriearbeiter, für die CDU votierten. Sie glaubten mit dieser Wahl etwas Effizientes für ihren Arbeitsplatz zu tun.

Es ist dieser Verzicht aufs Programmatische, der Leute wie Wolfgang Thierse zu Ostern um das Profil der Partei fürchten ließ. Die Leute wüßten einfach oft nicht, warum sie die SPD wählen sollten. Und in den zwei Sendschreiben, die Rudolf Scharping an die Fraktion seiner Partei und der Geschäftsführer Franz Müntefering an die Parteifunktionäre sandte, kommt eine ganz ähnliche Befürchtung zum Ausdruck. Beide Episteln sind allerdings mehr Bestandteil des Problems als seiner Lösung. Müntefering kritisiert, daß „bei der Setzung politischer Themen der Eindruck der Beliebigkeit erweckt werde“. Er fordert Partei, Fraktion und sozialdemokratisch regierte Länder dazu auf, „mit unterschiedlichen Rollen, aber im Gleichklang aufzutreten“. Scharping verteidigt gegenüber dem populistischen Rummel um den „Euro“ die „„europäische Orientierung sozialdemokratischer Politik“. Er wendet sich gegen das „leichtfertige Reden vom Bündnis der Regierenden“, womit er die gegenüber Kohl zu kooperative und gleichzeitig selbstherrliche Haltung sozialdemokratischer Länderregierungschefs meint. Schließlich setzt er darauf, daß die Partei die Wähler für ihre einmal beschlossenen Ziele „begeistern“ müsse, womit natürlich ein ständiges In-Frage-Stellen dieser Ziele nicht vereinbar sei.

Aber kein noch so protestantisch eingefärbter Appell zum „Gleichklang“ kann Erfolg haben, wenn die Partei ihre eigene Existenzgrundlage untergräbt. Die sozialdemokratischen Landesfürsten profilieren sich nicht, weil die Partei sich unaufhaltsam föderalisiert, sondern weil nichts und niemand zur Hand ist, woran sich ihre Handlungen messen lassen müßten. Zugegeben, die traditionellen sozialdemokratischen Milieus, wo das „Allgemeine“ seinen Platz hatte, sind unwiederbringlich zerfallen.

Der „Königsweg“ der gesellschaftlichen Reform ist ausgetreten, es gibt nicht das Reformprojekt. Wohl aber könnte es das mühsame Geschäft gesellschaftlicher Übereinkünfte geben, auf deren Grundlage Reformen möglich würden. Keine noch so aufrüttelnden Sendschreiben zur Osterzeit können diese Arbeit ersetzen. Das Problem ist nur, daß die SPD sich ihr gar nicht unterziehen will.