Der Heilige Geist flieht die Kamera

■ In Oldenburg zeigt Doris Waskönig mit der Fotoausstellung „Ein deutsches Dorf in Sibirien“ Bilder von wodkaseligen Festessen, dramatischen Beerdigungen und Kindstaufen

Es gibt durchaus komfortablere Arbeitsbedingungen, als den russischen Winter. Wer allerdings darauf beharrt bei minus 40 Grad im eisigen Wind zu fotographieren, der muß mit Verlusten rechnen. Für Doris Waskönig waren das: Materialschaden an einer Kamera und ein angefrorener Finger.

Zurückgekommen ist sie nach dreimaligem Besuch bei den Rußlanddeutschen mit Bildern, die ab Sonntag im Oldenburger Stadtmuseum in der Fotoausstellung „Ein deutsches Dorf in Sibirien“ zu sehen sind. Doch auch jetzt scheint ihr der Preis keine Minute lang zu hoch. Betreibt sie Fotojournalismus als Grenzerfahung? Überlebenstraining aus jugendlichem Abenteuerdrang jedenfalls scheidet eindeutig als Motivation aus? „Mein Mann sagt immer zu mir: Du könntest es doch hier so schön haben. Dann lache ich bloß.“

Wer die 66-jährige in ihrem Büro im oldenburgischen Ramsloh fragt, dem antwortet sie mit wunderlichen Begriffen. „Ach wissen Sie“ sagt Doris Waskönig “Pflichtgefühl war immer für mich wichtig. Und natürlich die Neugierde.“ Das muß als Antwort genügen, denn für philosphische Erörterungen und Reflexionen hat sie sich noch nie viel Zeit genommen. Praktisches Eingreifen schien ihr immer wichtiger zu sein.

Zur Zeit sieht sie den Handlungsbedarf ganz konkret vor der Haustüre. Im heimatlichen Ramsloh sind vor drei Jahren Spätaussiedler aus Rußland aufgetaucht. Und nicht einmal wenige. 12.000 leben im kleinen Landkreis Cloppenburg. Dennoch sind die Bedingungen nicht eigentlich katastrophal, denn man konnte überwiegend darauf verzichten, die Familien in Heimen unterzubringen. Weil hier viel gebaut wurde, leben die Rußlanddeutschen jetzt fast so, wie sie es aus Sibirien gewohnt sind: auf dem Lande, im Häuschen. Wo liegt also das Problem? „In der Bevölkerung, die sie ablehnt.“

Das Resultat: die üblichen Symphtome von Integrationsschwierigkeiten, zu viel Alkohol und Jungendbanden, die sich bekriegen. Doris Waskönig gehört nicht zu denen, die sich schweigend abwenden. Sie hat sich der Kinder angenommen, ihre Wesensart ist ihr symathisch. „Die sind ungeheuer lernbegierig und offen. Diese Verdrossenheit der deutschen Wohlstandskinder gibt es nicht. Die sind so, wie wir früher waren, das muß man fördern.“ Jetzt hat sie sich entschlossen neben der kleinen Musikgruppe, die sie leitet, noch mehr als Zeit zu investieren. Die 16-jährige Olga, die sie „ungeheuer begabt“ findet, läßt sie am Konservatorium ausbilden. Im der Kabelfabrik, die nach dem Ehemann nun die beiden Söhne leiten, hat man sich auf die neuen Mitarbeiter eingestellt. Von 150 Mitarbeitern sind 15 Rußlanddeutsche. Der sprichwörtliche, fast altmodische Fleiß der Rußlanddeutschen wird geschätzt.

Vielleicht ist es das Verständnis für das Fremdsein, das Doris Waskönig sich bewahrt hat. Vor 35 Jahren hat die gelernte Kauffrau der Beruf ihres Mannes in die norddeutsche Tiefebene verschlagen. Doch die Umstellung von der Wuppertaler Innenstadt auf das Landleben in Ramsloh war enorm. „Anfangs bin ich ziemlich einsam gewesen, manchmal drei Tage und Nächte allein“, sagt Doris Waskönig. Wo andere in ähnlicher Situation den Fernseher anstellen oder Kaffeekränzchen halten, hat sie die Abgeschlossenheit zum Prinzip erklärt. Rückzugsort und Fluchtburg wurde die Dunkelkammer. Vor etwa fünfzehn Jahren hat sich aus Familienschnappschüssen ein ernsthaftes Interesse für die Fotographie entwickelt. Heute ist aus der Autodidaktin eine vielbeschäftigte Fotographin geworden. Gerade ist sie aus dem Jemen zurück, wo sie für einen Fotoband Beduienen fotographiert hat. Und kaum hat sie den Schlafsack zum Lüften aufgehängt, da fotographiert sie schon wieder die Balettpremieren des Oldenburger Staatstheaters. Ein schwerer Bildband über das Oldenburger Land war ein Meilenstein auf diesem Weg. „Natürlich habe ich Ecken und Gegenden kennen- gelernt, die ich sonst nie entdeckt hätte. Aber als ich eine eisekalte Nacht auf einem Fischkutter verbracht hatte, wo ich die ganze Nacht stehen mußte, weil es nicht mal eien Stuhl an Deck gab, da hab ich mich schon gefragt, warum machst du das eigentlich.“ Statt einer Antwort stürzte sie sich ins nächste Abenteur.

Nach Sibirien kam sie per Zufall. Man hatte bei dem Rotarier Club Geld für ein Krankenhaus im neugegründeten deutschen Rayon gesammelt. Ob sich nicht mal nachschauen könnte, wo das Geld so bleibt und das Ganze mit der Kamera dokumentieren, wurde die Fotographin gefragt. Doris Waskönig beschließt Nägel mit Köpfen zu machen und zieht nicht nur in die Dörfer der Rußlanddeutschen, sondern wohnt gleich noch bei ihnen. Alexandrowka, eine hundert Jahre alte Siedlung wird zu ihrem Studienobjekt. In allen Lebensituationen beobachtete die Dörfler. Die Melkerinnen morgens um 6 Uhr auf dem Weg zur Kolchose, alte Frauen, die Enten füttern und ihre Töchter, die mit den Erzeugnissen des Gartens den Familientisch anreichern, die großen Festessen, wo der Tisch sich biegt und Wodka fließt und Beerdigungen mit vielen Tränen und Klagen. „Dort konnte ich fotografieren, wie die Leute bei uns vor hundert Jahren gelebt haben.“ Doch auch wenn man ihr mit sehr großer Herzlichkeit begegnete und sie in den Dörfern bald mit dem Vornamen gerufen wurde, manches brauchte Überzeugungsarbeit. „Ich wollte natürlich diese große Religiösität festhalten. Aber im Betsaal zu fotografieren, das hat lange gedauert, bis mir das erlaubt wurde. Es hieß doch allen Ernstes, der Heilige Geist würde gestohlen.“ Doris Waskönig hat nicht locker gelassen. Dreimal ist sie nach Alexandrowka gefahren, hat das Dorf und seinen Bewohner zu allen Jahreszeiten porträtiert. Bei klirrendem Winterwetter, im Sommer bei vierzig Grad und „Unmengen von Moskitos“ und im Dauerregen im Herbst. Irgendwann hat sie dann die Kamera auch in den Betsaal bringen dürfen und den Gottedienst fotographiert. Doch damit nun in Alexandrowka nicht der Heilige Geist fehlt, hat sie eine ganz einfache Rechnung aufgemacht: Wenn er auf den Bilder auch Deutschland entführt wurde, dann müßte er sich auch zurück importieren lassen. Was andere Fotographen sonst nur leichtfertig versprechen, Doris Waskönig hat ihre Fotos nach Sibirien geschickt.

Susanne Raubold

Der Katalog zur Ausstellung kostet 19.80. Das Stadtmuseum Oldenburg ist geöffnet Di. bis Fr. 9-17 Uhr, Sa. 9-12 Uhr und So. 10-17 Uhr.