: "Es ist alles vermischt"
■ Roberto Ciulli verabschiedete sich 1980 vom deutschen Staatstheater und gründete das transkulturelle Theater an der Ruhr. Mit einer deutsch-türkischen Version von "Im Dickicht der Städte" gastiert er jetzt in der
taz: Sie zeigen in Ihrer Inszenierung lauter monströse Großstadtfiguren, die hauptsächlich damit beschäftigt sind, gegeneinander zu kämpfen und sich selbst zu behaupten. Wenn sie sich begegnen wollen, funktioniert das nicht. Ist die Annäherung verschiedener Kulturen in dem Ort Großstadt möglich?
Roberto Ciulli: Nein, das würde ich keinesfalls sagen. Wir zeigen ein Defizit, aber das heißt nicht, daß es die endgültige Antwort ist. Am Ende des Stückes zeigt sich fast eine Unmöglichkeit, aber indem wir die Unmöglichkeit zeigen, heißt das, daß eine Möglichkeit da ist. Allein schon dadurch, daß wir Theater machen. Aber wir sind alle Fremde, und mit dieser Situation müssen wir umgehen.
Wenn alle Fremde sind, kann es dann um Integration gehen?
Das ist schwierig. Da ist einerseits die Entwicklung der Gesellschaft. Da müssen wir erkennen, wo wir hinwollen. Politisch hängen die europäischen Staaten immer noch den Prinzipien, die wir Europäer in der französischen Revolution formuliert haben, hinterher. Die Erkenntnis, daß es nicht mehr einen Staat, ein Volk, eine Sprache gibt, ist noch nicht wirklich versinnlicht. Die Menschen haben dieses Prinzip noch nicht in ihrem Körper. Im Gegenteil, durch den starken Regionalismus leben wir momentan genau das Gegenteil.
Deswegen glaube ich, daß es besonders darum geht, alle Kulturen zu unterstützen, die sich benachteiligt fühlen, die nicht die Möglichkeit haben, sich auszudrücken. Aber das Ziel ist die Anerkennung, daß wir eine Kultur sind. Die Nationalkultur ist Unsinn. Es gibt keinen Goethe unter den Griechen. Es ist alles vermischt. Aber dieses Ziel, wir sind alle Bewohner dieser Erde, ist noch nicht Fleisch und Blut geworden. Das ist eine der wichtigen Aufgaben bei der Legitimierung des Theaters. Weil, im Theater sind Schauspieler, Menschen das Zentrum.
Kein Multikulti-Zirkus
Ihr Theater bemüht sich seit über zehn Jahren um die Zusammenarbeit verschiedener Kulturen. Was ist der Grund dafür?
Das ist aus unserer Geschichte langsam entstanden. Aber Multikulturalität ist kein Geschenk, keine Idylle, es ist eine sehr konfliktreiche und schwierige Sache. Es ist sehr unangenehm zu erkennen, daß die Identität eines Menschen nicht in seiner National- und Kulturidentität liegt, daß man sie nicht delegieren kann. Die Identität eines Menschen geht nur als Person, als er selbst. Und das ist ein schwieriger Schritt.
Ist dieser Konfliktreichtum auch ein Grund dafür, daß bei Ihnen kein Friede-Freude-Multikulti-Zirkus stattfindet?
Ich glaube, das wäre gelogen. Ich bin gegen die Art von Projekten, die mit Schauspielern aus verschiedenen Kulturen entstehen unter dem Mantel „Große Harmonie“. Als gäbe es keine Unterschiede.
Deshalb fand ich den Brecht interessant, weil er zu einer Zeit entstand, wo Brecht sich persönlich als Fremder fühlte. Es war die Zeit, wo er meinte, er hätte was zu sagen auf dem Theater, aber niemand wollte etwas von ihm hören. Das Stück ist ein Schrei. Es erzählt von zwei Menschen, die kämpfen. Aber eigentlich wollen beide geliebt werden.
Sie gehen sehr frei mit Stücken um, erfüllen selbst das, was man im Regietheater werktreu nennt, überhaupt nicht. Was ist ein Stück für Sie? Folie, Ausgangspunkt, Material?
Das wichtigste ist das Thema. Man braucht dazu nicht unbedingt ein neues Stück. In 2.000 Jahren Literatur ist sehr viel geschrieben worden. Ein Stück ist eine Vorlage in dem Sinn, daß wir nicht sagen, wir möchten das Stück X machen, sondern wir fangen mit dem Thema an. Das unterscheidet uns ein bißchen davon, wie die 200jährige deutsche und europäische Theatertradition mit Stücken arbeitet. Stücke sind für mich wie Steine. Man muß sie ansprechen, damit sie uns etwas sagen. Im europäischen Theater geht jetzt eine Epoche zu Ende. Das Theater von morgen wird bestimmt ein anderes sein, als das traditionelle literarische Theater.
Wer ist der Autor?
Wer ersetzt den Schriftsteller? Ist das der Regisseur, ist das der Schauspieler, oder sind das beide gemeinsam? Bei Ihnen habe ich den Eindruck, es ist eher der Schauspieler.
Das Theater ist eine Kunst erster Kategorie und nicht eine interpretatorische Kunst. Das geschriebene Stück gehört in die literarische Gattung und in dem Moment, wo wir Theater machen, springen wir in eine andere Gattung. Das heißt nicht, daß wir den Autor des Stückes negieren, aber es kommen andere Autoren hinzu. Die Schauspieler sind da insofern das Zentrum, weil sie die Autoren von Leben sind, die Autoren des Augenblicks.
Und welche Funktion hat der Regisseur innerhalb dieses Systems? Ist der noch der Kopf der Inszenierung?
Der Regisseur ist auch ein Autor. Aber wir müssen die Begriffe, die wir von Regietheater haben, wieder neu untersuchen. Die Regie hat in den letzten 100 Jahren eine ungeheure Entwicklung gehabt und hat das Theater und die Schauspieler sehr weit gebracht. Die Frage ist jetzt, wie geht es weiter in einem Moment, wo Regie sich emanzipiert hat als Autorenschaft? Ich definiere mich momentan eher als Hebamme. Ich helfe der Mutter, dem Schauspieler, das Kind auf die Welt zu bringen. So verstehe ich die neue Aufgabe von Regie.
Sie waren als Hebamme ihren Müttern seit Jahren nicht untreu. Sie inszenieren überhaupt nicht mehr an Stadttheatern. Interessiert Sie dieser Betrieb nicht mehr?
Das Theater lebt aus der Kontinuität von Menschen. Ich gehe mit den Menschen vom Theater an der Ruhr einen Weg. Ich habe keinen Grund wegzugehen. Selbst wenn es das Theater an der Ruhr nicht mehr geben würde, wüßte ich nicht, ob ich von Theater zu Theater ziehen wollte. Es gibt Regisseure, es gibt Schauspieler, es gibt Pförtner im Theater, und es gibt Theatergründer. Vielleicht gehöre ich zu dieser Kategorie und kann nichts anderes machen. Interview: Gerd Hartmann
„Im Dickicht der Städte“ von Bertolt Brecht. Heute und morgen, 20 Uhr, Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen