Ein Tag reicht nicht, um alle zu nennen

Holocaust-Gedenktag in neuer Form: Am Denkmal am S-Bahnhof Grunewald werden am Montag und Dienstag 27 Stunden lang die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Juden verlesen  ■ Von Ute Scheub

Das Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde ruft die BerlinerInnen dazu auf, den jüdischen Holocaust-Gedenktag Jom HaSchoa am kommenden Montag und Dienstag in einer neuen Form zu begehen. Am S-Bahnhof Grunewald, jenem Ort, an dem 1941 die Deportationen zu den Konzentrationslagern, Ghettos und Erschießungsgruben begannen, sollen 27 Stunden lang die Namen der 55.696 ermordeten Berliner Juden und Jüdinnen verlesen werden.

Uli Faber, der Leiter des Jugendzentrums, hofft dabei auf rege Beteiligung vor allem von SchülerInnen und Jugendlichen: Ans Podium treten und vorlesen „kann jeder, der möchte“. Diese neue Form des Gedenkens solle helfen, die Dimension des Mordens faßbar zu machen: „Wir werden 27 Stunden brauchen, um die Namen nur aus dieser einen Stadt vorzulesen.“ Analog zum jüdischen Tag, der am Abend beginnt, fängt auch die Lesung abends an. Am Montag um 18 Uhr wird sie durch das Totengebet des jüdischen Oberkantors eingeleitet und geht dann die ganze Nacht und den ganzen Dienstag hindurch bis ungefähr 21 Uhr. Eine 20köpfige Delegation der Bündnisgrünen und eine Reihe von BezirksbürgermeisterInnen haben ihre Teilnahme bereits zugesagt.

In der jüdischen Kultur gelte die Vergangenheit als gegenwärtig und das Erinnern als religiöse Pflicht, begründete Uli Faber die in seinem Jugendzentrum entstandene Idee. Deswegen sprächen die Nachfahren die Namen der Verstorbenen aus, aber die ermordeten Berliner Juden „haben meistens keine Angehörigen mehr, die ihrer gedenken“.

Verlesen werden soll das „Gedenkbuch Berlins“, in dem die Kurzbiografien von 55.696 deportierten und getöteten jüdischen BerlinerInnen festgehalten sind. Ein halbes Dutzend MitarbeiterInnen des FU-Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung hat sechs Jahre lang alle verfügbaren Quellen durchforstet, um das 1454 Seiten dicke Buch zu verfassen. Unter anderem werteten sie die Unterlagen der Volkszählung von 1933 aus, in der erstmals nach jüdischen Großeltern gefragt wurde. Das Gedenkbuch erschien im letzten Jahr mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Kultur in der Edition Hentrich. Seine erste Eintragung lautet auf Jutta Aal, geboren am 16. November 1860 in Gochsheim, gestorben am 1. September 1942 in Theresienstadt. Als letzter ist Leo Zyzman vermerkt, geboren am 20. Mai 1926 in Berlin, in Auschwitz verschollen.

Von denjenigen, die in insgesamt 180 Transporten nach Auschwitz oder anderswohin deportiert wurden, kehrten nur 248 zurück, berichtete Gerhard Schoenberger, Leiter der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz. Auch von den rund 5.000, die in den Untergrund abgetaucht waren oder von christlich motivierten Familien versteckt wurden, überlebten nur etwa 2.000. Schoenberger nannte die Gedenklesung eine „großartige Idee“: Sie mache „die Dimension der Tragödie“ sichtbar.