Unter Adlern und Schamanen

Mit dem politischen Ende der Sowjetunion erfährt das Schamanentum eine kulturelle Wiedergeburt. Eine Reise zum geographischen Mittelpunkt Asiens, ins unbekannte und unzugängliche Land Tuwa  ■ Von Alexandra Schwerin von Krosigk

In der Mitte Asiens tragen die Menschen Hüte mit hochgewölbten Spitzen, um sich mit dem Kosmos verbunden zu fühlen. Dort, wo die Flüsse Ulug-Chem und Ka- Chem zum Jenissej zusammenfließen, jenem gewaltigen Strom, der 4.000 Kilometer weiter ins Nordpolarmeer mündet, dort steht ein Obelisk, der geographisch exakt den Mittelpunkt Asiens markiert. Die Mitte Asiens liegt in der Republik Tuwa, am Südrand von Sibirien.

Das Land Tuwa ist so unbekannt wie unzugänglich. Keine Eisenbahnlinie führt hierher, allein zwei Bergstraßen verbinden mit der Außenwelt. Im Winter sind sie kaum passierbar. Dennoch wurde die traditionelle Kultur unter sowjetischem Einfluß fast zerstört. Die buddhistischen Tempel wurden geschleift, über 5.000 Lamas verhaftet, ermordet, vertrieben. Der Schamanismus wurde verboten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion erlebt er eine kulturelle Wiedergeburt. Tuwa erklärte sich erst für souverän und trat dann als autonome Republik mit eigenem Parlament der Russischen Föderation bei. Jetzt ist überall im Land eine Rückbesinnung auf nationale Selbständigkeit zu spüren.

725 Schamanen gab es einst, heute sind es offiziell wieder 37. Sie sind Mitglieder der Gesellschaft der Schamanen. „Was wir verloren haben, wird wiedergeboren“, sagt Kenin Lopsan, ihr Präsident. Der 70jährige Historiker ist selbst ein „halber“ Schamane. „Es gab früher keine Schulen, keine Institute. Für uns sind die Sterne unsere Bücher. Der nächtliche Himmel ist unsere Enzyklopädie. Die Windrichtung birgt für uns das Wissen, ob Schnee, Regen oder Frost kommt. Wir fühlen voraus. Der Schrei eines Tiers, eines Vogels, das ist alles eine Wissenschaft.“ Und Kenin Lopsan holt für eine Frau mit einer nierenkranken Tochter ein kleines Stoffsäckchen aus seinem Schreibtisch, knotet es auf und schüttet auf den Tisch 41 schwarze Flußsteine aus 41 verschiedenen Flüssen. Steine, mit denen man in die Zukunft sehen kann...

Schamanen kommen jetzt aus aller Welt nach Tuwa. Es hat sich herumgesprochen, daß sich hier ein ursprüngliches Schamanentum bewahrt hat. In zwei Jahren soll in Tuwa der Weltkongreß der Schamanen stattfinden.

Im Zentrum der Hauptstadt Kyzyl entdecken wir unter den einfachen Holzhäusern etwas abseits der Straße die Gesellschaft der Buddhisten. Um zwölf, um vier und abends um halb zehn sammeln sich hier die Menschen. Wir gehen mit ihnen. Sitzen zwei Stunden lang auf den niedrigen Holzbänken und verstehen kein Wort. Eine Stunde lang wird der tibetische Buddhismus erklärt, auf tuwinisch. Dann folgen eine Stunde lang Gebete, auf tibetisch und in Sanskrit. Den Leuten gefällt es. Sie schreiben kleine Zettelchen mit ihren Namen, dem Geburtsjahr und Ort – und mit ihren Wünschen und Sorgen. Zettelchen, die während der Gebete von den Mönchen zeremoniell durchgegangen werden.

Seit einem Besuch des Dalai Lama vor drei Jahren bekommen die Buddhisten immer mehr Anhänger. „Materiell fangen wir bei Null wieder an“, sagt der Leiter der buddhistischen Gesellschaft. „Aber geistig ist alles vorhanden, wir knüpfen an die alte Tradition an.“ Es gibt wieder 16 buddhistische Gemeinden in Tuwa. Meist haben sie nur einfache, kleine Gebetshäuser. Der Bau von Tempeln geht nur langsam voran, denn es fehlt an Geld.

Wir wollen uns ein buddhistisches Zentrum ansehen und fahren nach Todsha im Nordosten. Die Tuwiner schwärmen von dieser Region, sie nennen sie die tuwinische Schweiz. Aber dorthin zu gelangen ist schwer. Todsha gehört zu jenem Drittel Tuwas, zu dem keine Straße führt. Einmal die Woche geht ein Flugzeug. Die meisten fahren mit dem Schiff. Aber die Schiffsgesellschaft hat Finanzprobleme, seit die Treibstoffpreise in die Höhe geschnellt sind. So befährt sie die Hauptverbindungsstrecke über den Jenissej stromaufwärts nur alle zwei Tage. Das Schiff wird vollgepfropft, so gut es geht. Auf den Bänken und im Gang quetschen sich die Leute. Zehn Stunden dauert die Fahrt.

Am Abend erreichen wir Toora-Chem, die Gebietshauptstadt. Wir sind mit Bajyr verabredet, einem 20jährigen buddhistischen Mönch. Mit ihm gemeinsam hocken wir auf der Holztreppe seines Hauses: Küche, Schlafzimmer und Gebetsraum. Alles ist frisch renoviert und strahlt in freundlichem Hellblau. Bajyr lächelt versonnen. „Es ist so ein herrliches, freies Leben als Mönch. Ein paar Gebete am Tag – das ist alles.“ Er braucht nicht zur Armee zu gehen. Er lernt Altmongoloisch, Tibetisch, Sanskrit, Russisch und Englisch. Er bekommt keinen Lohn, hat keinen Besitz. Er lebt von dem, was die Leute ihm geben. Kommt niemand zum Gebet, hat er nichts zu essen. Aber schräg gegenüber wohnt seine Tante. Und überhaupt helfen ihm alle Leute. Nur Mönch werden, das will sonst keiner in Toora- Chem. Die jungen Männer wollen lieber Familien gründen. Denn das Mönchsleben ist schwer und einsam. Man darf nicht rauchen, nicht trinken. Aber Bajyr sieht eine Aufgabe vor sich: Er will jedem Lebewesen auf dieser Welt zu mehr Glück verhelfen. Jedem! Und wieder lächelt er still.

In der Nähe von Toora-Chem liegt der See Azas. Die Fahrt dorthin ist ein einziges Moto-Crossing. Zwanzig Kilometer lang halsbrecherische Schlaglöcher. Bei Regen lösen sich die Wege auf. Mitten in dieser unwegsamen Einsamkeit haben die Sowjets ein Ferienlager gebaut, einfach und ohne jeden Komfort. Im Winter ist es für Jäger, im Sommer für Wanderer, Kanufahrer, Naturliebhaber geöffnet.

Hier treffen wir Wolodja Amyr von der Volksfront Freies Tuwa, der mit ein paar Freunden Urlaub macht – und ein bißchen Sozialarbeit. Er hat Kinder aus zerrütteten Familienverhältnissen mitgenommen. Wolodja ist einer der Gründer der tuwinischen Nationalbewegung. Zusammen mit anderen Gruppen forderte er gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Referendum über die Unabhängigkeit und eine neue Verfassung. Die Volksfront Freies Tuwa gehört zur ersten Opposition des Landes, sie koalierte mit Organisationen wie der radikalen Gesellschaft der Obdachlosen, der Gesellschaft der entlassenen Häftlinge und auch der Vereinigung der jungen Unternehmer. Aber die Aufbruchstimmung von Anfang der Neunziger ist vorbei. Die meisten informellen Bewegungen haben sich aufgelöst. Die Volksfront Freies Tuwa ist geblieben und läßt sich jetzt offiziell als Partei registrieren. Parteien gibt es viele. Die Sportpartei, die Agrarpartei, Rußlands Wahl und selbst Schirinowskis faschistischen Liberaldemokraten. Aber im Parlament sind nur die Sozialisten und das Souveräne Tuwa vertreten – beides Parteien, deren Mitglieder aus der alten kommunistischen Parteispitze stammen. Der Präsident, selbst aus der ehemaligen Nomenklatura, hat um sich getreue Gefolgsleute geschart.

Mit Wolodja und seinen Freunden machen wir einen Ausflug zu

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Tuwas berühmten Heilquellen. Es sind Pilgerorte für Kranke. Der grüne See, zu dem wir gehen, soll Haut- und Gelenkerkrankungen heilen. Er riecht beißend nach faulen Eiern. Schwefel! Im Wasser versinken wir sofort in einer dicken, leicht-luftigen Schlammschicht. Sie wirkt wie eine Schlammpackung.

Tuwa ist etwa halb so groß wie Deutschland und zählt nur 350.000 Einwohner. Sie leben in einer verschwenderischen Vielfalt an Natur – in baumlosen Kältesteppen, tiefen, dichten Wäldern und in der Wüste. Das Land hat zahlreiche Flüsse und Seen mit glasklarem, sauberem Wasser. Die Erde Tuwas birgt ungeheure Reichtümer, Gold und Silber genauso wie Kohle und Salz. Es gibt jedoch keine weiterverarbeitende Industrie. Wir fahren in den Westen der Republik, dorthin, wo Asbest abgebaut wird. Und diesmal gibt es eine Straße. Wie landesüblich unterbrechen wir mehrfach die Fahrt, um zu opfern. Am Wegesrand, an den Bergpässen sind Kultstätten errichtet. Eine Holzstange, behängt mit bunten Stoffstreifen, steht in der Mitte eines Steinhaufens. Wer an einem solchen owoo vorbeikommt, legt einen Stein dort nieder oder wirft ein paar Münzen dazu. Jeder Berg, jeder Fluß, jeder See hat seinen Geist, seinen Herrn – man versucht, ihn gnädig zu stimmen. Aber alle Naturverehrung hindert die Tuwiner nicht, auf der Fahrt sämtlichen Abfall aus dem Fenster zu werfen.

Wir erreichen Ak-Dowurak. Der tuwinische Name bedeutet „Weißer Staub“. Es ist die Stadt des Asbestabbaus. Wer bei Tuwa- Asbest arbeitet, darf – oder muß – schon ein paar Jahre früher in Rente gehen als sonst üblich. Asbest verursacht schwere gesundheitliche Schäden. In unmittelbarer Nachbarschaft der verwüsteten Abbruchlöcher entdecken wir traditionelles Nomadenleben. Hier ist die Sommerweide eines alten Ehepaares. Seit Jahren ziehen sie mit ihrer Jurte an diesen Platz. Ihre Kinder leben längst in den Städten, aber im Sommer schicken sie den Eltern die Enkel zur Hilfe. Zu Sowjetzeiten war der Privatbesitz an Pferden, Schafen, Ziegen, Kühen, Schweinen, Jaks, Rentieren und Kamelen beschränkt. Jetzt haben die Sowchosen und Kolchosen nicht mehr genug Geld, ihre Arbeiter zu behalten – und bezahlen mit Vieh. Die Nomaden haben wieder große Herden. Es ist ein hartes und rauhes Leben, das sie führen. Kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, keine Bequemlichkeit. Die Sonne sticht, glühend und trocken. Auf dem Dach der Filzhütte liegt neben dem blutverschmierten Fell eines geschlachteten Tiers Weißkäse zum Trocknen. Am Himmel kreisen ruhig die Adler.

Nach alter Sitte werden wir beim Betreten der Jurte mit einer Schale gesalzenen Buttertees empfangen. Lange sitzen wir bei den Nomaden. Zum Buttertee kommt der Araka hinzu, der leichte Schnaps aus gegorener Stutenmilch. Als Ausländer sind wir Ehrengäste. Man bietet uns die besten Plätze an, reicht uns die köstlichsten Essensstücke und weiht uns in die Geheimnisse der Filzzelte ein: „Tritt niemals auf die Schwelle einer Jurte, sondern geh durch die Tür und wende dich nach links. Die rechte Seite gehört der Hausfrau und ihrem Gatten. In der Mitte steht der Herd, sein Feuer ist heilig und darf nicht verunreinigt werden. Die Jurte ist nach kosmischem Prinzip konstruiert. Siehst du da oben im Dach das Rauchloch? Das symbolisiert die Sonne. Sie ist das Höchste, was es gibt. Die Holzverstrebungen, die zu den Seitenwänden herunterführen, verbreiten sich wie ihre Strahlen. Der Kreis der Seitenwände hier um uns herum, das ist die Erde, auf der wir leben. So ist die Jurte mit allem verbunden: Erde, Sonne, Natur. Es ist ein mystischer Ort.“

Die Schamanen werden als große Heiler verehrt. Aber wer krank ist, geht auch zu den Buddhisten, die Meister alter tibetischer Medizin sind. Und wenn alles nichts hilft, bleibt immer noch der Weg zum Arzt und ins Krankenhaus. Mit der modernen Gesundheitsversorgung sieht es allerdings düster aus. Es fehlt an Geld. Opanas Ondar, stellvertretender Minister im Gesundheitsministerium, berichtet von einer Zunahme der Kindersterblichkeit. Im letzten Jahr sei die Tuberkulose um etwa ein Drittel angestiegen und liege damit um das Zweieinhalbfache höher als in Rußland. „Tuberkulose ist eine soziale Krankheit. Wenn diese Krankheit zunimmt, dann spiegelt das die sich verschlechternden sozialen Verhältnisse“, sagt Opanas Ondar. Monatelang müßten die Leute auf ihren Lohn warten, die sanitären Verhältnisse seien schlecht, es gebe kaum Seife. Die Ernährungslage sei ebenfalls schlecht. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist für Männer in den letzten fünf Jahren von 56 auf 49 Jahre gesunken. Das liege im wesentlichen an den vielen Unfällen und am Alkoholismus.

Dabei ist Wodka in Tuwa ziemlich teuer. Man muß fast doppelt soviel bezahlen wie sonst in Rußland. Die ehemalige Bierfabrik bekam per Ukas das Monopol zur Wodkaproduktion. In der Stadt munkelt man, der 35jährige Direktor, Slawa Darsha, sei der Kopf der Mafia. Wenn es die denn gibt, dann würde ihn seine Monopolstellung dafür prädestinieren. Sie garantiert hohe Gewinne. In seiner Bierfabrik jedenfalls regiert der Jurist und ehemalige Parteifunktionär wie ein kleiner Feudalherrscher. Er hat für seine Arbeiter das japanische System eingeführt. Das heißt: Bezahlt wird nach Prämie. Man kann sowohl 20 Prozent mehr verdienen als auch bis zu 50 Prozent abgezogen bekommen... Slawa Darsha weist zufrieden auf die Disziplin seiner Leute hin. Vom Wodka spricht er nicht gern, und über Produktionszahlen schweigt er sich aus. Statt dessen schwärmt er von seinem Zedernbranntwein, den er nach Amerika exportieren will, und von dem gesunden tuwinischen Quellwasser, das er am liebsten nach Deutschland verkaufen möchte. Ein Geschäftsmann. Die Fabrik zu besichtigen schlägt er uns aus. Er will ein Gesundheitszeugnis von uns sehen, einen Aidstest... Genüßlich spielt er seine Macht aus.

In der Hauptstadt Kyzyl sammelt die Miliz nachts Betrunkene ein. Der Wodka zerstöre die tuwinische Kultur, hören wir immer wieder. Man sei hier nur den leichten Milchschnaps gewohnt, den Araka. Heute geraten die Betrunkenen gleich in Streit und zücken die Messer. Die Zahl der Morde steigt.

Wir begleiten einen Schamanen zu einer Totenzeremonie. 49 Tage nach dem Tod verläßt die Seele die Erde, und der Schamane geleitet sie in die andere Welt. Die Zeremonie findet in der Wohnung der Toten im fünften Stock in einem Neubaublock am Rande Kyzyls statt. Eine Tafel ist feierlich gedeckt. „Der Geist der Toten ist immer dabei“, wird uns erklärt. „Aber sehen können ihn nur Alkoholiker, psychisch Kranke und Schamanen.“ Für die Tote wird ein Teller mit ihren Lieblingsspeisen gefüllt. Von jeder Speise drei Löffel voll, stellvertretend für den Himmel, die Erde, die Planeten. Es ist das letzte gemeinsame Mahl, das letzte Gespräch mit der Toten. Der Schamane stellt durch den Rauch einer Kerze fest, in welche Richtung der Geist die Wohnung verläßt. Wir gehen nach draußen, aufs freie Feld. Ein kleiner Holzstoß wird errichtet und angezündet, der Teller mit den Speisen kommt obenauf. Der Schamane ruft den Geist herbei und spricht mit ihm. Er teilt den Verwandten die letzten Worte mit. „Weint nicht, seid nicht traurig, und vertragt euch gut“, habe die Tote gesagt. Um das ausgehende Feuer zieht der Schamane schnell eine Linie. Nun sei dem Geist der RÜckweg versperrt.

Bei aller Fürsorge um die Toten wirken die Gräber der Tuwiner ungepflegt, verlassen. Die Friedhofskultur wurde erst von den Russen eingeführt. In Tuwa beerdigte man seine Toten nicht. Der Leichnam wurde in die Berge gebracht und dort einfach abgelegt. Heute praktiziert man dies nur noch bei Säuglingen, die sterben, bevor sie drei Monate alt sind, und bei Schamanen. Die Schamanen sind es auch, die diese Toten in die Berge bringen.

„Wenn man einige Zeit später an so einem Toten vorbeikommt, dann steht er da wie auf allen vieren“, erzählt ein Schamane. „Die Gase in den Gedärmen drücken den Körper in der Mitte hoch. Wenn nun an dieser hochgeblasenen Leiche ein Tier vorbeikommt und mit der Schnauze gegen den aufgeblähten Magen des Toten stößt, dann – puff! – platzt der ganze Körper.“ Der Schamane schüttelt sich vor Lachen.

Die Tuwiner hängen eben nicht am Körper des Toten. Sie sorgen sich einzig um seine Seele.