Der Schlagabtausch ist eskaliert

Israel setzt Angriffe auf Ziele im Libanon fort. Erstmals syrisches Munitionslager bombardiert. Hizbollah feuert Katjuscha-Raketen nach Nordisrael. Tausende Zivilisten auf der Flucht  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Die israelischen Luftangriffe auf Ziele in Beirut, in der Gegend von Baalbek und im südlichen Libanon haben zu einer neuen Serie von Raketenangriffen der Hizbollah auf den Norden Israels geführt. Beim ersten Gegenschlag wurden dabei sechs Israeli verwundet, darunter eine PKW-Fahrerin in der Stadt Kiriat Schmona schwer.

Von israelischer Seite wurde bereits seit den frühen Morgenstunden schweres Artilleriefeuer auf einige Dörfer nördlich der von Israel besetzten „Sicherheitszone“ gerichtet. Gestern bombardierten israelische Hubschrauber auch ein Munitionsdepot der syrischen Armee in der Nähe von Beirut. Weitere israelische Hubschrauber nahmen die schiitischen Vororte von Beirut in mehr als drei Angriffswellen unter Beschuß, wie die libanesische Polizei berichtete.

Der Sender der südlibanesischen Söldnerarmee SLA richtete eine Warnung an 41 libanesische Dörfer, daß Angriffe auf sie unmittelbar bevorstünden. Der Bevölkerung wurde geraten, ihre Häuser zu verlassen.

Damit nimmt die neue israelische Militäroperation immer mehr den Charakter der großen Offensive „Rechenschaft“ vom Juli 1993 an. Damals hatte Ministerpräsident Rabin offen von der israelischen Absicht gesprochen, die Dorfbevölkerung in Massen in den Norden gen Beirut zu treiben, um so Druck auf die libanesische Regierung auszuüben, damit diese die Hizbollah im Südlibanon unter Kontrolle nehme.

Der Kommandant der Nordfront, General Amiran Levin setzte eine Versammlung der Bürgermeister nordisraelischer Siedlungen und Städte davon in Kenntnis, daß die gegenwärtige israelische Militäroffensive im Libanon bis zu zwei Wochen dauern kann. Der Kommandant riet den Bürgermeistern, auf eine längere Operation vorbereitet zu sein. Auch Israels Regierungschef Shimon Peres drohte bei einem Besuch von Kiriat Schmona, auf die Hizbollah- Angriffe zu antworten, „wie es sich gehört“.

In Erwartung der Vergeltungsschläge von Hizbollah hat die israelische Armee in den vergangenen Tagen Kinder und kranke Greise aus der Grenzstadt Kiriat Schmona und Umgebung in das Landesinnere evakuiert. Auch der erwachsenen Bevölkerung wurde diesmal geraten, die Grenzgebiete vorübergehend zu verlassen. Mindestens 10.000 Menschen sind dem Aufruf gefolgt. Die in der Stadt verbliebene Bevölkerung wurde aufgefordert, bis auf weiteres in den Bunkern zu bleiben.

„Zum Trost“ wiederholen israelische Medien mit Nachdruck die Meldungen aus dem Libanon, nach denen die intensiven israelischen Artillerie- und Luftangriffe den Großteil der libanesischen Dorfbevölkerung zum Verlassen ihrer Ortschaften veranlaßt haben. Gleichzeitig wird in Israel vor möglichen Vergeltungsschlägen des libanesischen Widerstands im israelischen Hinterland oder auf israelische Objekte im Ausland gewarnt.

Selbst der libanesische Ministerpräsident Hariri hat angesichts der israelischen Luftangriffe am Donnerstag von einer unausbleiblichen Eskalation der Gewalt gesprochen. Zur Lösung des Konflikts sei es notwendig, daß sich Israel aus dem seit 1978 besetztgehaltenen Südlibanon zurückziehe und damit der libanesischen Regierung ermögliche, für die Sicherheit im Grenzgebiet zu sorgen.

Nach israelischen Angaben hat die amerikanische Regierung Beirut vor einer Beschwerde beim UNO-Sicherheitsrat gewarnt und klargemacht, daß Washington ein Veto einlegen werde, falls der Rat die israelische Offensive im Libanon verurteilen lassen wolle.

In Tel Aviv demonstrierten gestern Aktivisten der links-oppositionellen jüdisch-arabischen „Demokratischen Front“ vor dem Verteidigungsministerium für einen Rückzug der israelischen Truppen aus der „Unsicherheitszone“ im Südlibanon. Ministerpräsident Peres wurde aufgefordert, das Feuer einzustellen und die Friedensverhandlungen mit Syrien und Libanon mit der Bereitschaft wiederaufzunehmen, sich vollständig aus den besetzten Golan-Höhen und dem Südlibanon zurückzuziehen.