■ Der umstrittene australische Bioethiker Peter Singer wurde zu einem Kongreß geladen – und wieder ausgeladen
: „Mit Singer muß man diskutieren“

taz: Warum haben Sie Peter Singer erst eingeladen und ihn dann wieder von der Teilnehmerliste gestrichen?

Hans-Rudi Fischer: Es wurden vor allem von Behinderten gewalttätige Störungen des Kongresses angedroht. Viele unserer Referenten sind angerufen oder brieflich aufgefordert worden, ihre Teilnahme am Kongreß wieder abzusagen. Uns selbst wurde am Telefon gedroht, wir sollten uns warm anziehen und brauchten viel Polizei, falls wir den Kongreß mit Peter Singer wirklich durchführen sollten.

Wir mußten uns also überlegen, ob und wie wir den Kongreß über die Bühne bringen können. Hätten wir Singer reden lassen, wäre es zu einer Situation gekommen, in der gewalttätige Behinderte von der Polizei hätten abtransportiert werden müssen. Das wollten wir weder den Demonstranten noch den Kongreßteilnehmern zumuten. Wir wollten über anstehende bioethische Fragen diskutieren und nicht polizeitaktische Überlegungen anstellen.

Wer genau hat denn gegen Singer protestiert?

Fischer: Es gab ungefähr zwanzig Protestschreiben von Behindertenverbänden, wie zum Beispiel der Landesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte Bremen e.V. Es kamen aber auch Briefe von der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie und den „Ärzten gegen den Atomkrieg“ sowie von Landeskliniken und Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Begründungen gleichen sich.

Im Brief vom Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen Mainz e.V. taucht ein interessantes Argument auf: Singer solle vor allem deshalb keine Möglichkeit zur Propagierung seiner Thesen haben, weil im Zuge der sozialen Kürzungen detailliert berechnet würde, wieviel Behinderte die Gemeinschaft kosten. Jetzt, da unser gesamtes soziales System vor dem Ruin steht, ist die Gefahr für Behinderte groß, herausgerechnet zu werden. Man muß aber auch erwähnen, daß wir Briefe von Behinderten bekamen, an der Einladung Singers festzuhalten.

Haben auch Parteien interveniert?

Fischer: Da gibt es eine große Koalition der Heuchelei. Bundestagsabgeordnete wie Monika Knoche (Grüne), Robert Antretter (SPD) und Hubert Hüppe (CDU) wandten sich in trauter Eintracht und mit Begründungen gegen den Auftritt von Peter Singer, die den Verdacht nahelegen, daß sie nicht mehr als drei Sätze von Singer gelesen haben.

Warum Heuchelei?

Fischer: Vor den Fragen, die Singer anspricht, stehen Ärzte und Pflegepersonal täglich. Man ignoriert das und verhindert die Debatte darüber. Ich selbst bin im Zweifelsfalle für das Rederecht, für die diskursive Aufarbeitung des Problems und gegen eine Tabumoral. Worüber man nicht schweigen kann, darüber muß man reden.

Singer hat in einem Interview gesagt, ethische Entscheidungen beruhten auf konkreten Beobachtungen. Man könne sehen, ob ein Mensch glücklich lebe, und das sei letztlich auch der Bewertungsmaßstab für lebenswertes Leben. Ist das nicht ein ungeheuerlicher Satz?

Fritz B. Simon: Ich würde dieses Kriterium nie akzeptieren. Wer will denn entscheiden, wie glückliches Leben aussieht? Es erscheint mir absurd, eine Art Bruttosozialprodukt menschlichen Glücks zu berechnen. Ich möchte daher Singers Position in keiner Weise verteidigen, kann aber auch nicht akzeptieren, daß irgendeine Interessengruppe entscheidet, worüber diskutiert werden darf.

In dieser ganzen Singer-Debatte geht es doch um drei Dinge: Die ethische Frage nach der Unterscheidung von Leben und Tod, die sich zum Beispiel in der Transplantationsmedizin und in starkem Maße auch angesichts von Abtreibungen nach pränataler Diagnostik stellt.

Die zweite Frage ist, was für eine Art Ethik wir wollen: eine prinzipiengeleitete, mit der wir besondere Umstände nicht berücksichtigen, oder eine Verantwortungsethik, derzufolge handelnde Personen wie Ärzte, Krankenschwestern oder Eltern entscheiden, die Konsequenzen ihrer Entscheidung bedenken und tragen.

Die dritte Frage ist die nach der Meinungsfreiheit. Wenn eine Gruppe bestimmt, worüber diskutiert werden darf, dann ist das meines Erachtens ein illegitimer Herrschaftsanspruch. Und wenn er mit nicht zu hinterfragenden Werten begründet wird, dann ist das Fundamentalismus.

Wer eine fundamentalistische Position vertritt, ist doch Singer. Sind da die Proteste nicht zu verstehen?

Simon: Wenn jemand zum Beispiel sagt, daß Singer eine Denktradition vertritt, die zu der Haltung der Ärzte im Nationalsozialismus geführt hat, dann ist das für mich ein sehr ernsthafter Einwand, aber kein Grund, ihn nicht einzuladen. Diese Denktradition bestimmt weite Teile der Medizin auch heute noch, die ganze Transplantationsmedizin zum Beispiel geschieht unter utilitaristischen Gesichtspunkten. Man hat das nicht vom Tisch, wenn Singer in Australien bleibt.

Fischer: Der eigentliche Skandal der Debatte liegt doch darin, daß Singer erbarmungslos rational ist, sich damit aber ganz im Mainstream moderner Ethik und eines Rationalitätskonzeptes bewegt, das die Welt als Maschine begreift und als solche berechenbar machen möchte. Singer ist auf der Suche nach Eindeutigkeit und will die Ambivalenzen und Aporien ausschließen, die unser Leben mitbestimmen.

In einem Interview sagt er zum Beispiel: „Viele unserer ethischen und sozialen Probleme sind zu wichtig, als daß wir zu ihrer Lösung nicht die beste Maschinerie auffahren lassen sollten, die wir zu bieten haben – unsere Vernunft.“ Das ist ein Rationalitätskonzept, das ich kritisiere. Die größte Irrationalität dieses Rationalitätskonzeptes steckt in dem totalitären Versuch, das Irrationale ausschließen zu wollen.

Ist die Singer-Kontroverse nicht auch ein Symptom dafür, daß sich nach dem Ende der großen Entwürfe eine antiaufklärerische Diskursfeindlichkeit breitgemacht hat?

Fischer: Ich würde es so ausdrücken: Die Ethik versucht als Theorie eine Landkarte zur Verfügung zu stellen, mit der man sich in der Landschaft orientieren kann. Wir haben das Problem, daß sich die Landschaft, sprich unser faktisches Handeln im Grenzbereich von Leben und Tod, in den letzten dreißig Jahren durch den medizinischen Fortschritt unglaublich verändert hat und die Landkarte nicht mehr paßt. Was soll also angepaßt werden: die Landkarte an die veränderte Landschaft oder die Landschaft, sprich unser Handeln, an die tradierte Ethik? Interview: Jürgen Berger