Sie kommen, um endlich zu erzählen

Heute beginnt die Wahrheitskommission Südafrikas mit den Anhörungen der Apartheidsopfer. Die Erwartungen der Menschen sind groß, Enttäuschungen unvermeidlich  ■ Aus Johannesburg Kordula Doerfler

Sie kommen, um ihre Geschichten zu erzählen. Ihre Geschichten, von denen jede einzigartig ist und die sich doch ähneln. Ethel, deren Mann von Inkatha-Leuten erschossen worden ist. Victoria, deren Sohn von Xhosas erschossen worden ist. Simon, dessen Vater von Inkatha-Leuten erschossen und der selbst angeschossen worden ist. Grace, deren beide Söhne erschossen worden sind. Maria, deren Sohn in Polizeigewahrsam verschwunden ist. Jede und jeder der über 50 Anwesenden ist entweder selbst ein Opfer von politischer Gewalt während der Apartheid- Zeit oder ein Hinterbliebener. In der Mehrzahl sind an diesem Samstag morgen ältere Frauen in dem heruntergekommenen Saal der Lethukuthula-Schule im Township Kathlehong, südöstlich von Johannesburg, versammelt. Aber auch Männer sind dabei, junge vor allem, Invaliden. Zwei kommen im Rollstuhl, einer an Krücken.

Frauen fällt es leichter, über ihre Erfahrungen zu sprechen und ihre Gefühle zu zeigen“, meint Mavis Khumalo. Einmal im Monat hält sie ein Treffen in der Schule ab, um den Menschen im Township zu erklären, was die Wahrheitskommission ist. Heute beginnt die Kommission mit den ersten öffentlichen Anhörungen von Opfern, allerdings nicht hier in Johannesburg, sondern 1.000 Kilometer weit weg, in der Kleinstadt East London an der Südküste. In den kommenden Wochen werden aber auch in Johannesburg die Anhörungen anfangen.

In allen Teilen Südafrikas haben sich Unterstützungsgruppen gebildet, die meist von den Kirchen, den Kommunen und regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) gegründet wurden. Die größte ihrer Art in der Provinz Gauteng rund um Johannesburg ist die Khulumani-Gruppe, die vom renommierten „Zentrum für die Erforschung von Gewalt und Versöhnung“ in Johannesburg ins Leben gerufen wurde. In fast allen Townships hat die Gruppe mittlerweile Büros. Das Zentrum war von Anfang an eng in den Entstehungsprozeß der Wahrheitskommission involviert. Heute herrscht dort jedoch Ernüchterung. „Die Kommission ist viel zu weit weg von den Bedürfnissen der Menschen“, kritisiert Graeme Simpson, der Direktor des Instituts. „Und die Regierung hat in einem Punkt völlig versagt: Sie hat es nicht geschafft, eine Strategie zu entwickeln, um die Leute zu erreichen und sie über die Wahrheitskommission aufzuklären.“

Das, was freiwillige Helfer wie Mavis Khumalo in den Townships leisten, ist tatsächlich harte Arbeit. Seit fast einem Jahr beantwortet sie die immergleichen Fragen von Menschen, die häufig Analphabeten sind, organisiert Rechtsbeistand, erklärt die Prinzipien der Kommission. Die Meetings in den Townships sind Wahrheitskommissionen im kleinen, wo die Menschen erstmals öffentlich reden können über das Unrecht, das ihnen angetan wurde. Khulumani ist ein Zulu-Wort und heißt soviel wie: Sprich es aus! Und sie reden, vor allem die Frauen. Wie in der Schule melden sie sich zu Wort und erzählen ihre Geschichten. Manchen zittert die Stimme dabei, manche brechen in Tränen aus, manche sind wütend. Die anderen hören aufmerksam zu, schütteln entsetzt die Köpfe, geben mit kleinen Schnalzlauten Unterstützung.

Fast alle haben Hoffnungen, die vollkommen unrealistisch sind. Sie wollen, daß die Täter bestraft werden, daß sie ins Gefängnis kommen. Und sie wollen Geld haben, Geld, das ihnen hilft, aus der elenden Armut herauszukommen. Nur Victoria Ntuli hat das Prinzip der Versöhnung wirklich begriffen: „Ich will mit den Mördern meines Sohnes reden“, sagt die alte Frau, „ich will sie dem aussetzen, und sie müssen mir erklären, warum sie das getan haben.“ Von Gefängnisstrafen hält sie nichts, denn die machen ihren Sohn auch nicht wieder lebendig. „Es herrscht große Verwirrung um die Kommission“, sagt auch Mavis Khumalo. Die Grenzen zwischen allgemeinen Folgen der Apartheid und wirklichen Menschenrechtsverletzungen sind für den einzelnen oft schwer auszumachen, und vor allem bei den blutigen Auseinandersetzungen zwischen ANC- und Inkatha-Mitgliedern sind auch die Grenzen zwischen Tätern und Opfern schwer zu ziehen.

„Viele Opfer und Hinterbliebene werden am Ende sehr enttäuscht sein“, glaubt auch Brendon Hamber, Psychologe am Zentrum für Gewaltforschung. „Ihre einzige Chance ist zu reden, denn nur so können Traumata verarbeitet werden.“ Doch bei weitem nicht alle werden überhaupt eine Gelegenheit haben, von der Kommission angehört zu werden. Die Zahl der Fälle kennt niemand genau, aber sie geht in die Hunderttausende. Allein 75.000 Menschen wurden in den 80er Jahren von der Polizei verhaftet, in der Provinz Kwa Zulu/Natal kamen fast 15.000 Menschen im Konflikt zwischen ANC und Inkatha ums Leben. Auch wenn der Vorsitzende der Wahrheitskommission, Erzbischof Desmond Tutu, unablässig predigt, daß vor allem die kleinen, die unbekannten Fälle Gehör finden müssen, wurden Hoffnungen geweckt, die in 18 Monaten nie und nimmer erfüllt werden können. Brendon Hamber ist etwas zuversichtlicher: „Ich glaube immer noch, daß das Projekt erfolgreich sein kann, aber nur ganz langfristig.“