■ Nebensachen aus Brest: Mit dem Wodka im Korsett
Brest/Terespol (taz) – Wie ein Keil drängen sich die Menschen an das drei Meter hohe Gitter. Pelzmützen, Frauen und Männer, alles schiebt sich durcheinander im Bahnhof Brest an der Grenze zwischen Weißrußland und Polen, morgens um neun Uhr dreißig.
Das Schieben nach vorne wird heftiger. Ärgerliche Blicke treffen die Milizionäre, die das Gitter bewachen. Endlich öffnet sich das Tor. Die Menschen stürmen über den Bahnsteig in die Wagen. Bis sich die Babuschkas und die fein geschminkten Damen in den Zug pressen, hat drinnen längst die Bastelstunde begonnen. Junge Männer schrauben die Seitenverkleidungen über den Gepäckgittern ab und demontieren Bänke. Hastig blicken Frauen hin und her, hantieren unter ihren Kleidern. Klebeband reißt unter Jacketts und Pullovern, in Plastikschläuche gefüllter Wodka kommt hervor. Pummelige Teenager ziehen Liter um Liter aus Strumpfhose und Korsett und verwandeln sich in wendige Backfische. Das Waggondach, Sitze, die Verkleidung der Türmotoren – alles wird eilig mit Schnaps vollgestopft.
Plötzlich übertönt der Ruf „Scheiße, Vorsicht!“ auf Polnisch das Getümmel. Die Sitzbänke klappen nach unten, schlagartig stehen oder sitzen alle mit gelangweiltem Blick herum. Weißrussische Zöllner schieben sich durch den vollgepfropften Waggon. Schnell stecken Kerle noch ein paar Stangen Zigaretten hinter die dicken Rücken eingekeilter Babuschkas. Doch Gefahr droht keine.
Endlich röhrt die Diesellok los, 20 Minuten bis Terespol. Dort lauern die polnischen Zöllner. Kurz hinter Brest fliegt auch die Styropor-Isolierung der Waggonwände aus den Fenstern, gefolgt von dicken Knäueln gebrauchten Klebebands. Kaum ist alles verstaut und die letzten Verkleidungen wieder notdürftig angeheftet, steht der Zug im polnischen Grenzbahnhof.
Paßkontrolle, Taschenvisite. Doch die Schnauzbärte mit dem polnischen Wappen am Ärmel gehen vorbei. Außer einem Sack Zigaretten und Schnaps beschlagnahmen sie nichts.
„Das ging ja gut heute“, sagt eine Dame zur anderen. „Mal gut, mal schlecht – wie auch sonst im Leben“ die Antwort. In ihren Taschen klirrt leise Glas auf Glas. Heute lohnt es sich. Ein Liter Wodka kostet in Weißrußland nur fünf bis sechs Mark, kurz nach der Grenze schon fast zwölf, in Warschau gar über fünfzehn Mark. Eine belorussische Rentnerin kann so mit zwei Fahrten im Monat ihre kärgliche Pension verdoppeln.
Der Zug fährt wieder an, weiter Richtung Warschau. Die größeren Fische räumen ihre Verstecke leer. Babuschkas und die Damen verkaufen ihre vier, fünf Liter an die zugestiegenen Zwischenhändler. Bedächtig kippt die Hehlerin die Flaschen hin und her. Wenn die richtigen Luftbläschen im Wodka perlen, ist er angeblich gut, wenn nicht, selbstgebrannter Fusel.
Um halb zwölf rattert der Zug in Biala Biala ein. Die Schmuggler steigen mit prallvollen Tragetaschen aus. Ihre Ware hat „den Weg nach Europa“ geschafft. Reiner Metzger
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