Virtuosität der Stille

■ Keiner hustete im Dom: Gidon Kremer und die Deutsche Kammerphilharmonie schlugen die BremerInnen in Bann

Bis heute ist der 50jährige russische Geiger Gidon Kremer ein unruhiger Geist geblieben. Bei Weltstars seiner Kategorie ist es selten genug, daß eine atemberaubende Virtuosität konsequent dem musikalischen Gesamtgeschehen untergeordnet ist. So wirkt das, was er spielt, wie Neuland, wie im Augenblick erfunden, sozusagen nachkomponiert. Das garantiert eine risikohafte Frische, läßt eine „elektrische Spannung“ zwischen ihm und dem Publikum entstehen, wie er es nennt. Im letzten Abonnementskonzert der Deutschen Kammerphilharmonie hielt Gidon Kremer das Publikum derart in Bann, daß im gut besuchten Dom kein Huster zu hören war. Das Programm: auch das ein echter Kremer insofern, als er stets Durchschnittsprogramme meidet oder berühmte Werke mit einem neuen Blickwinkel sieht und spielt. So ist ihm der Durchbruch der russischen KomponistInnen Sofia Gubaidulina, Alfred Schnittke und auch Arvo Pärt maßgeblich zu verdanken. In diesem Konzert spielte er „Fratres“, eine dreistimmige Musik für neue und alte Instrumente des litauischen Komponisten Arvo Pärt. Hier beginnt mit wilden gebrochenen Akkorden die Sologeige, um dann in die zeitlose Schönheit reiner Dreiklänge überzugehen. Zwar weiß man wie bei Arvo Pärt meistens nicht so genau, in welchem Jahrhundert man sich befindet, was man gerne überhören kann, wenn sich ein Könner wie Gidon Kremer und die geheimnisvoll und sensibel spielende Kammerphilharmonie der Sache annehmen. Kremers sich aus dem ganzen Körper heraus vermittelnde Wahrheitssuche nach jedem einzelnen Ton überzeugt davon, daß Pärts mittelalterlicher Sound und seine meditative Stille nicht nur als Regression einzuordnen sind.

Das ist schon eher der Fall bei dem georgischen Komponisten Gija Kantscheli, dessen Rückgriff auf die Volksmusik seines Landes hier über eine vom Band eingespielte Stimme deutlich wurde: „V&V“ (Violin and Voice) hieß das Stück, in dem zarte Streicherklanggewebe gegen die sieben-, neun-und elftönigen Tonleitersequenzen stehen. Darin wuselt tastend und suchend die Sologeige Gidon Kremers. Von einer solchen Ästhetik war–s nur noch ein kleiner Schritt zur Schnulze, die dann als Zugabe auch prompt kam: „Oblivion“ von Paiziolla, so betörend schön gespielt, daß jeder Widerspruch im Keim erstickte.

Die MusikerInnen der Kammerphilharmonie waren sicht- und hörbar animiert durch das Zusammenspiel mit Gidon Kremer. Das garantierte der Wiedergabe des frühen Violinkonzertes in d-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy Erregtheit und Frische, die über die Längen des Stückes gut hinweghalf (Mendelssohn schrieb das Konzert im Alter von dreizehn Jahren). Kremers Spiel beeindruckte durch den fabelhaft ausgehorchten Dialog mit dem Orchester, keine Sekunde bestand die Gefahr, daß er sich als Star in den Vordergrund spielte. Im Gegenteil, für sein schwer zu beschreibendes, vor- und nachhorchendes Spiel, außerordentlich mit der schwierigen Akustik des Domes abgestimmt, fällt eine paradoxale Formulierung ein: Virtuosität der Stille.

Die Kammerphilharmonie, wie gesagt in bester Laune und Verfassung, rundete das ungewöhnliche Konzert ab mit der Wiedergabe eines weiteren frühen Mendelssohn-Werkes, der Sinfonie Nr. 12 in g-Moll, ein Werk des dreizehnjährigen Wunderkindes. Dem explosiven Geist dieser einfallsreichen Musik wurde das Orchester ebenso gerecht wie den peitschenden Rhythmen und attackenartigen Klangfarben zweier Stücke für Streichorchester op. 11/1,2 von Dimitri Schostakowitsch - mit glänzenden Soli von Thomas Klug (Violine), Friederike Latzko (Viola) und Marc Froncoux (Cello). Wie schon so oft höchst beeindruckend der gemeinsame Atem, der eine exzellente Wiedergabe ohne Dirigent erlaubt.

Ute Schalz-Laurenze