Aus dem Adressbuch gelöscht

Das Lesebuch „Jüdische Orte in Berlin“ erzählt von den kleinen Adressen und Biographien, die an authentischen Orten wiederbelebt werden sollen  ■ Von Rolf Lautenschläger

Wer heute in der Stadt die Orte jüdischen Lebens sucht, begegnet zumeist Orten verschwundener, ausgelöschter Geschichte. In Trümmern liegt immer noch der Friedhof an der Großen Hamburger Straße, die Fundamente der alten Synagoge an der Heidereutergasse sind unter einem Parkplatz vergraben, Mahnmale und Tafeln in Schöneberg oder Steglitz, Weissensee oder Pankow bilden Zeichen des Gedenkens. Selbst dort, wo jüdisches Leben wieder lebendig ist, etwa in der wieder aufgebauten Synagoge an der Oranienburger Straße, dem jüdischen Kindergarten oder am Fraenkelufer, herrscht wenig Normalität: Noch immer patroullieren Polizisten davor, noch immer wirken die Orte symbolhaft in der Stadtkulisse.

Einen anderen Weg geht jetzt das Buch „Jüdische Orte in Berlin“, erzählt es doch von der Geschichte und Gegenwart ganz alltäglicher Häuser, Straßen, Plätze, „Un-Orten“ und Denkmälern. Nicht allein die berühmten und berüchtigten Orte jüdischen Lebens und Sterbens im Scheunenviertel oder im Grunewald bestimmen das Konzept des Bilder- und Geschichtenbuchs von Ulrich Eckhardt und Andreas Nachama, sondern die scheinbar unwichtigen Adresssen und kleinen Biographien im Berliner Stadtgrundriß.

Etwa die: Wer hat bis zu seiner Verhaftung durch die Nazis in dem Haus Schulenburgring 2 in Tempelhof gelebt? „Unter dieser Anschrift wohnte schon 1931 Arthur Grunwald. 1938 ist er aus dem amtlichen Adressbuch verschwunden. Am 8. März 1943 wurde der Jude Arthur Grunwald aus der obigen Wohnung abgeholt, schreibt der Hausbesitzer an die Gestapo. Die monatliche Miete für März von 78,40 Mark war von p.p. Grunwald bezahlt.“ Grunwald, erfährt der Leser, wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. In der Chronik seines Hauses, die Eckhardt/Nachama aufgeschrieben haben, wird Grunwald aus der Anonymität herausgehoben und „lebt“ so weiter. „Die vielen kleinen Geschichten und Begebenheiten, die am authentischen Ort – oder Un-Ort – nach Chronistenpflicht erzählt werden, sollen mehr Bewußtsein schaffen als jedes monumentale Denkmal“, so die Autoren.

An die jeweiligen Orte führen die rund 400 Fotographien von Elke Nord. Doch der Wegweiser durch die Bezirke, zu Häusern oder Bombenlücken, in denen bis 1933 fast 175.000 jüdische Einwohner lebten, ist nicht nur Chronik, Nachschlagewerk und Dokumentation. Der Publizist Heinz Knobloch hat vor Ort nach Geschichte und Geschichten gegraben und erzählt diese mit spannenden Sätzen nach. Gelebtes jüdisches Leben, Schicksale und die Vergangenheit verbinden sich so zu einem literarischen Bild.

„Das Buch ist für Flaneure und führt durch die jüdische Geschichte und deren Gegenwart“, sagte Nachama gestern bei der Vorstellung. Es ist auch ein Buch durch die Bedenkenlosigkeit, mit der bis dato mit dieser Geschichte umgegangen wird. Denn noch immer werden Häuser abgerissen, Straßen mit jüdischen Namen nicht rückbenannt oder Hauswände überputzt, ohne die Chiffren der Vergangenheit zu dokumentieren.

„Jüdische Orte in Berlin“. Nicolei Verlag, 29,80 DM. Die Fotos sind im Centrum Judaicum, Oranienburger Straße, ausgestellt.